Evonik-Chef ruft zu "mehr Europa" auf
ab/ski Düsseldorf – Wenn das neue Europäische Parlament und die neue Europäische Kommission in den nächsten Wochen zusammentreten, sollten die Interessen der Wirtschaft an vorderster Stelle stehen. Das forderte Klaus Engel, Vorstandschef des Chemiekonzerns Evonik, in der Veranstaltung “Börsen-Zeitung im Dialog”. “Europa braucht eine neue Erzählung, eine Vision, die sich verwirklichen lässt, ohne dass man den Menschen ihre Nationen nehmen muss”, sagte Engel.Er wünsche sich von den EU-Politikern ein Vorantreiben der Integration und eine neue Verfassungsdebatte. “Ich persönlich bin überzeugt davon, dass wir in nicht ferner Zukunft den Europäischen Bundesstaat brauchen”, sagte Engel und regte an, dass sich Europa eine gemeinsame, schlanke Verfassung gibt.Konkret macht der Manager sechs Politikfelder aus, in denen die europäische Zusammenarbeit forciert werden müsse. Von besonderer Bedeutung ist nach Einschätzung Engels die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit. Es gebe zahlreiche Vorgaben und Gesetzesinitiativen, die geeignet seien, “die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu untergraben”. Um das zu verhindern, regte Engel die Gründung eines Gremiums an, das “über die Wettbewerbsfähigkeit wacht”.Daneben sei die Energiepolitik von herausragender Bedeutung für die Industrie. Bislang sei hier von Gemeinsamkeit wenig zu spüren. Die Energiewende in Deutschland sei nur eine von 170 Energie- und Klimaregulierungen in der EU. “Es fehlt ein europäischer Energie-Binnenmarkt, der den Energiebedarf Europas (…) einheitlich denkt und sicherstellt.” Es gehe darum, dass Energie zu vernünftigen, wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung stehe. Wenn dies mit erneuerbaren Energien gelinge, sei das gut, doch dürften ökologische Ziele nicht wichtiger genommen werden als die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Der Schlüssel für die ZukunftDie Erfolgsstory der Europäischen Union habe mit einem Energiethema – der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – begonnen, nun sei es an der Zeit für einen neuen großen Schritt. “Europa braucht günstige Energie und Europa braucht in Teilen eine neue Industrialisierung”, analysierte Engel. In einigen EU-Staaten habe die Industrie schon Schaden genommen, dieser Trend müsse umgekehrt werden. “Denn von Handel und Dienstleistung allein kann keine Volkswirtschaft leben”, folgerte der Evonik-Chef. Dringend intensiviert werden müsse auch die Zusammenarbeit in Forschung und Entwicklung (F & E). Hier liege der Schlüssel für die Zukunft. Zwar belege Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz bei den Forschungsaufwendungen, doch solche schwer erkämpften Positionen seien leicht verloren. Die EU habe sich vor zehn Jahren zum Ziel gesetzt, 3 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Forschung zu investieren. 2013 wurde das Ziel mit einem Wert von 1,88 % verfehlt. Grund sei die fehlende Ausrichtung des EU-Haushalts auf F & E sowie die unterschiedliche Regelung der steuerlichen Förderung der Forschungsausgaben in den EU-Mitgliedstaaten. Spitzenreiter Japan habe demgegenüber 3,5 % des BIP in diesen Bereich gesteckt. Gemeinsame VerkehrspolitikDefizite gebe es zudem in der Infrastrukturpolitik, monierte Engel. Sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene mangele es an grenzüberschreitenden Magistralen. “Die Nationalstaaten werkeln hier vor sich hin”, anstatt die Netze dem Wettbewerb zu öffnen. “Die Wirtschaftswirklichkeit gäbe solche Liberalisierung längst her”, resümierte Engel und forderte “eine Verkehrspolitik aus einer Hand”. Darüber hinaus machte sich Engel für eine weitere Harmonisierung der Steuergesetzgebung stark sowie für eine weitere Liberalisierung des Handels. Freihandel diene dem Wohlstandsaufbau am besten, da er die Effizienz der Warenverteilung und des Ressourcenverbrauchs erhöhe. Zudem beschleunige internationaler Wettbewerb die Innovationen. Daher sei es umso erstaunlicher, dass es bislang noch kein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika gebe, sagte Engel. “Der Nutzen eines solchen Abkommens, das hoffentlich 2015 zu Ende verhandelt ist, wird für Europa ganz enorm sein”, ist Engel überzeugt. Mehr als ein DenkzettelNeben den Tatsachen, dass die Demokratie funktioniere und dass es eine klare Mehrheit “pro Europa” gebe, so der Verleger weiter, gehöre auch dies zu den Erkenntnissen aus der Europawahl: “Es gibt, auch in Deutschland, eine nicht zu unterschätzende Minderheit von Wählern, die vielleicht nicht gegen Europa sind, denen aber das Krisenmanagement der etablierten Parteien missfällt und die diesen Parteien deshalb zumindest einen Denkzettel verpassen wollten. Womöglich in der Hoffnung, dass auch in Europa künftig wieder der alte Rechtsgrundsatz gilt: ,Pacta sunt servanda’ – Verträge sind einzuhalten.” Im einen oder anderen Land habe es indes Wahlergebnisse gegeben, die weit mehr seien als ein Denkzettel für die Etablierten, etwa in Frankreich. Die Tragweite dieses Rechtsrucks sei heute noch gar nicht absehbar.