GASTBEITRAG

Generalamnestie im Kapitalmarktrecht?

Börsen-Zeitung, 7.7.2016 Ein Versehen des deutschen Gesetzgebers bei der Umsetzung europäischen Rechts dürfte zur Folge haben, dass Gesetzesverstöße in wichtigen Bereichen des Kapitalmarktrechts, die in der Zeit vor dem 3. Juli 2016 stattgefunden...

Generalamnestie im Kapitalmarktrecht?

Ein Versehen des deutschen Gesetzgebers bei der Umsetzung europäischen Rechts dürfte zur Folge haben, dass Gesetzesverstöße in wichtigen Bereichen des Kapitalmarktrechts, die in der Zeit vor dem 3. Juli 2016 stattgefunden haben, straf- und bußgeldrechtlich nicht mehr geahndet werden können. Betroffen sind insbesondere Verstöße in der Ad-hoc-Publizität sowie des Insider- und des Marktmissbrauchsrechts. Einen prominenten Anwendungsfall bilden damit auch die kürzlich bekannt gewordenen staatsanwaltlichen Ermittlungen wegen Marktmanipulation gegen Mitglieder des VW-Vorstands im Zusammenhang mit der Dieselaffäre.Ihnen und anderen noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Straf- und Bußgeldverfahren dürfte der Gesetzgeber unabsichtlich die Grundlage entzogen haben. Zivilrechtliche Ansprüche und Verfahren sind allerdings nicht betroffen. Was ist passiert? Am 3. Juli 2016 sind die zentralen Bestimmungen der europäischen Marktmissbrauchsverordnung (MAR) in Kraft getreten. Hierdurch werden unter anderem die bisher im nationalen Recht verankerten Bestimmungen des Insider- und Marktmissbrauchsrechts sowie zur Ad-hoc-Publizität in EU-weit unmittelbar anwendbares europäisches Recht überführt. Die Regelung von Sanktionen für Verstöße bleibt zwar weiterhin dem nationalen Gesetzgeber überlassen. Allerdings enthalten die MAR und eine begleitende EU-Richtlinie hierfür nähere Vorgaben, die von den Mitgliedstaaten ebenfalls bis zum 3. Juli 2016 umzusetzen waren und das bisherige Sanktionsregime teilweise erheblich verschärfen.In Deutschland erfolgte die Umsetzung durch das Erste Finanzmarktnovellierungsgesetz vom 30. Juni 2016 (1. FiMaNoG). Es hebt in den nun unmittelbar durch die MAR geregelten Bereichen die bisherigen nationalen Vorschriften des Wertpapierhandelsgesetzes (WpHG) auf. Außerdem stellt es die zugehörigen Straf- und Bußgeldvorschriften, die bisher an Verstöße gegen Vorschriften des nationalen Rechts angeknüpft hatten, auf die entsprechenden Vorschriften der MAR um und setzt die sonstigen europäischen Vorgaben zur Neuregelung des Sanktionsregimes um. Diese Änderungen sind aufgrund ausdrücklicher Anordnung im 1. FiMaNoG bereits zum 2. Juli 2016 und damit einen Tag früher in Kraft getreten als die Regelungen der MAR. Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs ging der Gesetzgeber offenbar davon aus, dass die maßgeblichen Vorschriften der MAR und der zugehörigen Richtlinie bereits am 2. Juli 2016 erstmals anzuwenden beziehungsweise bis dahin umzusetzen seien. An einem TagDieses Versehen hatte zur Folge, dass es am 2. Juli 2016 in Deutschland für einen Tag unter anderem kein Verbot des Insiderhandels und der Marktmanipulation und keine Verpflichtung zur Ad-hoc-Publizität gab. Denn die entsprechenden Vorschriften des WpHG waren hier durch das 1. FiMaNoG aufgehoben und die Vorschriften der MAR noch nicht in Kraft.Gleiches galt für die zugehörigen Straf- und Bußgeldvorschriften des WpHG, die an diesem Tag auf noch nicht anwendbare Vorschriften der MAR und damit ins Leere verwiesen. Auch wenn diese “Ahndungslücke” nur für einen Tag bestand, hat sie weitreichende Folgen. Denn in Fällen, in denen das maßgebliche Gesetz nach der Tat geändert wird, ist einer Entscheidung im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht das jeweils mildeste Gesetz zugrunde zu legen (§ 2 Abs. 3 StGB bzw. § 4 Abs. 3 OWiG).Ist zu einem Zeitpunkt zwischen Tat und letzter Entscheidung die Straf- beziehungsweise Bußgeldandrohung ganz entfallen, ist dies das mildeste Gesetz. Es kann dann für die Tat insgesamt keine Straf- oder Bußgeldsanktion mehr verhängt werden. Dies gilt nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann, wenn die “Ahndungslücke” auf einem gesetzgeberischen Versehen beruht. Das würde bedeuten, dass Verstöße aus der Zeit vor dem 3. Juli 2016 nicht mehr geahndet werden können, wenn die zugehörigen Verfahren noch nicht abgeschlossen sind.Eine Ausnahme von der Regel der Anwendung des mildesten Gesetzes gilt nur bei Zeitgesetzen, die lediglich für einen bestimmten Zeitraum gelten sollen. Hier ist eine Ahndung auch dann noch nach dem zum Tatzeitpunkt geltenden Recht möglich, wenn das Gesetz anschließend außer Kraft getreten ist (§ 2 Abs. 4 StGB bzw. § 4 Abs. 4 OWiG). Beispiele sind etwa Handelsverbote im Außenwirtschaftsrecht zur Umsetzung eines Embargos.Wegen ihrer kontinuierlichen gesetzlichen Umgestaltung und Zweckänderung wurden vom Bundesgerichtshof zwar auch einmal die Regelungen zur Mineralölsteuer als Zeitgesetz qualifiziert. Für die hier in Rede stehenden Bereiche des Kapitalmarktrechts, deren Zwecksetzung sich durch die Umstellung von nationalem auf unmittelbar anwendbares europäisches Recht nicht geändert hat, dürfte die Annahme eines Zeitgesetzes indes nur schwer zu begründen sein. Auf den Umgang der Verfolgungsbehörden und Gerichte mit den Folgen des 1. FiMaNoG bei Verstößen aus der Zeit vor dem 3. Juli 2016 darf man daher gespannt sein.—-Christoph Rothenfußer, Rechtsanwalt und Partner der Kanzlei Milbank,Tweed, Hadley & McCloy in München