IM BLICKFELD

Gretchenfragen in der Berichtssaison

Von Stefan Paravicini, Frankfurt Börsen-Zeitung, 13.2.2014 Wie er es mit der Religion habe, will Gretchen in Goethes Faust von der Hauptfigur wissen. Eine unangenehme Frage, doch der selbstzweiflerische Gelehrte, der in eine unheilvolle Allianz mit...

Gretchenfragen in der Berichtssaison

Von Stefan Paravicini, FrankfurtWie er es mit der Religion habe, will Gretchen in Goethes Faust von der Hauptfigur wissen. Eine unangenehme Frage, doch der selbstzweiflerische Gelehrte, der in eine unheilvolle Allianz mit dem Teufel verstrickt ist, kann sie sich nicht aussuchen. Für Vorstände von börsennotierten Unternehmen, die sich auch in der aktuellen Berichtssaison in Telefonkonferenzen den Fragen des Kapitalmarkts stellen, liegt der Fall anders.Sie können sich zwar nicht die Frage, wohl aber das Gretchen aussuchen. Lauren Cohen, Dong Lou und Christopher Malloy, die an der Harvard Business School und an der London School of Economics forschen, stellen in einem aktuellen Aufsatz (Playing Favorites: How Firms Prevent the Revelation of Bad News) fest, dass Unternehmen in den USA in der Vergangenheit von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht und damit kurzfristig die Entwicklung des Aktienkurses beeinflusst haben.Eine Praxis, die in den Investor-Relations-Abteilungen deutscher Konzerne nicht zu beobachten ist, sagen Experten. “Ich glaube, dass das in Deutschland nicht gemacht wird, und weiß, dass es bei den von uns beratenen Unternehmen nicht passiert”, sagt IR-Profi Harald Kinzler von der Strategieberatung Hering Schuppener. “Es soll vorkommen, dass Unternehmen eher das Gespräch mit Analysten suchen, die dem Unternehmen positiv oder weniger skeptisch gegenüberstehen”, sagt Ralf Frank, Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Finanzanalyse und Asset Management. Das sei dann aber meist einem verhaltensökonomisch erklärbaren “Bias” zuzuschreiben und nicht einer bewussten Manipulation, wie sie von den drei Forschern behauptet wird. Kursrelevantes Casting …Gestützt auf die Auswertung von 70 000 Protokollen von Analystenkonferenzen bei US-Unternehmen zwischen 2003 und 2011, kommen Cohen, Lou und Malloy zu dem Schluss, dass manche IR-Abteilungen Analysten bevorzugen, die die Aktie positiv bewerten und Investoren zum Kauf empfehlen. Die Firmen behandelten die Fragen dieser Marktkommentatoren vor allem dann bevorzugt, wenn die jüngsten Zahlen des Unternehmens die Erwartungen der Marktbeobachter gerade so erreichten, stellen die Autoren fest.Die börsennotierten Gesellschaften zogen die Fragen der ihnen wohlgesinnten Analysten aber auch dann in einem statistisch relevanten Ausmaß vor, wenn das Unternehmen in naher Zukunft eine Kapitalerhöhung oder ähnliche Maßnahmen plante. Auch jenen Firmen, bei denen in den Wochen nach der Analystenkonferenz das Management Aktien verkaufte, konnten die Forscher eine hohe Bereitschaft nachweisen, bei der Wahl von Analystenfragen während der Telefonkonferenzen die Wortmeldungen von Sympathisanten vorzuziehen.Die von den Forschern als “Call Casting” beschriebene Praxis – die Choreographie von Analystencalls mit Hilfe der technischen Möglichkeiten zur Manipulation der Reihung von Fragen – ist in der kurzen Frist durchaus kursrelevant, glaubt man Cohen, Lou und Malloy.Zwar ließen sich schlechte Nachrichten, die in einer choreographierten Telefonkonferenz nicht vollumfänglich zur Sprache kamen oder gar nicht thematisiert wurden, in den meisten Fällen nur zeitlich begrenzt verschleiern. Unternehmen, in denen nach Auffassung der Forscher eine Casting-Praxis zu beobachten war, mussten in der Folge häufiger ihre Ziele revidieren als andere Unternehmen. Hätte man das Wissen um den Hang zur Choreographie bei einzelnen Unternehmen aber für ein Musterportfolio genutzt und für diese Titel auf einen verzögerten Kursverfall nach den Terminen im Investorenkalender gesetzt, ergab sich in einer Simulation der Forscher ein Renditeplus von immerhin 12 % pro Jahr.Hätten Investoren bei dem US-Konzern Sealed Air im Frühjahr 2007 bereits von den Forschungsergebnissen gewusst, hätten sie nach der Analystenkonferenz im April 2007 wohl auf fallende Kurse gesetzt. Von den elf Analysten, die das Unternehmen damals auf dem Zettel stehen hatten, habe der Vorstand in dem Conference Call nur jene berücksichtigt, die dem Papier zuvor gute Aussichten bescheinigt hatten und den Vorstand während des Calls dann auch tüchtig lobten, schreiben Cohen, Lou und Malloy. Für das folgende Quartal musste das Unternehmen zum ersten Mal nach fünf Jahren einen negativen freien Cash-flow ausweisen, die Aktie stürzte nach dem Analystencall Ende Juli um 7 % ab (siehe Chart). … oder Selbstbeschränkung?Harald Kinzler, der für Kunden von Hering Schuppener die IR-Funktion interimistisch auch schon einmal ganz übernimmt, hält die Schlussfolgerungen der Forscher auch deshalb für gewagt, weil er in der eigenen beruflichen Praxis noch nie ein Call Casting erlebt hat. Dass in den Protokollen von Telefonkonferenzen mit Analysten meist relativ zahme Formulierungen nachzulesen sind, habe mit einer Form der Selbstbeschränkung der Marktkommentatoren zu tun, die harsche Kritik an den Verantwortlichen nicht oder jedenfalls nicht in diesem teilöffentlichen Forum formulieren würden. “Das verbietet nicht nur die Höflichkeit, sondern häufig auch das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis, in dem sich Analysten und die von ihnen beurteilten Unternehmen befinden”, sagt Kinzler, der früher selbst als Analyst tätig war.Aber auch die Choreographen unter den IR-Managern müssen sich beschränken. Nach den Ergebnissen von Cohen, Lou und Malloy lässt sich Call Casting nämlich maximal über vier aufeinanderfolgende Quartale betreiben, bevor die Aufmerksamkeit der Analysten für das Unternehmen insgesamt sinkt und damit auch die Gefahr steigt, dass Teile der Investorengemeinde sich ganz von der Aktie abwenden. Um die mit einem Verdacht auf Call Casting verbundenen Informationsasymmetrien anzuzeigen und möglichst zu verhindern, regen die Forscher an, die Protokolle von Analystenkonferenzen um eine Liste der Teilnehmer zu ergänzen, deren Fragen nicht behandelt wurden.