„Hohe Liquidität sichert unsere Unabhängigkeit“
Sabine Wadewitz.
Herr Schmelmer, zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie arbeitet Boehringer Ingelheim an einem virusneutralisierenden Antikörper. Wie weit sind die Bemühungen gediehen?
Die ganze Welt spricht über Impfstoffe, das ist aber kein Schwerpunkt von Boehringer Ingelheim. Wir setzen vor allem auf die Entwicklung möglicher Therapien und haben uns früh auf das Thema Antikörper fokussiert. Ein Projekt läuft gemeinsam mit der Universitätsklinik Köln, der Universität Marburg und dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung und wird gegenwärtig in klinischer Phase 1/2a getestet. Wir erwarten im dritten Quartal Ergebnisse aus dieser klinischen Studie.
War das eine bereits laufende Forschung in einer anderen Indikation, die auf Corona umgelenkt wurde?
Nein, es handelt sich hierbei um einen neuen Antikörper. Darüber hinaus prüfen wir auch andere Moleküle darauf, ob sie in der Covid-19-Therapie unterstützen können.
Wie wirkt sich die Pandemie im operativen Geschäft aus? Spüren Sie noch Probleme in Lieferketten oder Logistik?
Seit Frühjahr vergangenen Jahres arbeiten bei uns rund 40000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von zu Hause aus, auch um die Produktion zu schützen. Unsere Lieferketten sind intakt und wir bleiben lieferfähig. Auch die Transportketten haben gehalten, so dass wir unsere Ziele 2020 erreicht haben. Wir waren vorbereitet, weil wir schon vor der Pandemie in Digitalisierung, IT und Infrastruktur investiert hatten; das war ein großer Vorteil. Ich habe beim Wechsel des Großteils unserer Mitarbeiter ins Arbeiten von zuhause etwas gezittert, aber unsere IT-Netze sind nicht in die Knie gegangen.
Waren Sie auch von Knappheiten bei Vorprodukten betroffen?
Wir bekommen den von den USA für Medizinprodukte verhängten Exportstopp zu spüren. Dabei geht es weniger um Vorprodukte für Medikamente, denn Boehringer Ingelheim stellt den Großteil der Wirkstoffe selbst her. Von den Inhaltsstoffen, die wir einkaufen, halten wir zudem hohe Bestände vor. Aber bei einzelnen Produktionsmitteln haben wir mit Engpässen zu kämpfen. Da geht es um Dinge wie Ventile oder Dichtungen, die in der Pharmaproduktion von der US-Gesundheitsbehörde FDA zugelassen sein müssen.
Boehringer hat zuletzt die Ausgaben für Forschung & Entwicklung auf Rekordniveau gesteigert. Ist der Peak erreicht oder setzt sich das fort?
Die Forschungsinvestitionen werden weiter steigen. Bis 2030 wollen wir allein in den Bereichen Onkologie und Digitales 1 Mrd. Euro zusätzlich in Forschung und Entwicklung stecken. Auch im Geschäftsbereich Tiergesundheit haben wir die Forschung neu aufgestellt und werden verstärkt investieren. Ich vermeide bewusst den Begriff Kosten, denn wir investieren in die Zukunft.
Im Zusammenhang mit der Pandemie wird der Patentschutz der Pharmaindustrie in Notsituationen in Frage gestellt. Boehringer hatte schon vor dieser Diskussion betont, dass der Schutz des geistigen Eigentums immer mehr unter Druck steht. Wo ist das zu spüren?
Ein Faktor sind Generikahersteller, die den Druck auf Originalhersteller erhöhen. Die aktuelle Diskussion über den Patentschutz ist für uns als forschendes Pharmaunternehmen ein sehr sensibles Thema. Wenn wir große Summen in die Entwicklung eines Medikaments investieren, braucht es den Patentschutz, um diese Ausgaben zu refinanzieren. Von hundert Forschungsprojekten erreichen ein bis zwei die Marktzulassung. Ohne den Schutz des geistigen Eigentums können wir diese Investitionen nicht rechtfertigen. Dieser Zusammenhang zeigt sich ja auch in der Covid-19-Pandemie.
Sie meinen, ohne Patentschutz hätten die Impfstoffanbieter nicht so ein Tempo vorgelegt?
Die Pharmaindustrie hat in Rekordzeit Impfstoffe entwickelt. Wenn man jetzt den Patentschutz in Frage stellt, um die Produktionsmengen zu erhöhen, ist das kontraproduktiv. Die Qualität der Impfstoffe ist nicht sicherzustellen, wenn Patente willkürlich gelockert werden und Lizenzierungen nicht mit der Absicherung einer hochwertigen Technologie verbunden sind. Die Produktion von Impfstoffen ist sehr komplex.
Wie gehen Sie mit der gesellschaftlichen Anforderung um, auch die Bevölkerung ärmerer Länder mit lebenswichtigen Medikamenten zu versorgen?
Das ist ein Thema, mit dem wir uns bereits lange und intensiv beschäftigen. Beispielsweise engagieren wir uns seit zehn Jahren in der Initiative Making More Health, um allen Menschen auf der Welt Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen. Die Aufhebung des Patentschutzes ist keine Lösung. China ist ja gerade dabei, den Patentschutz zu stärken, um Investitionen abzusichern.
Rechnen Sie mit zunehmendem Preisdruck durch regulatorische Eingriffe im Pharmamarkt?
Preisdruck ist bereits in Ländern zu spüren, wo die Regierungen Kosten im Gesundheitssystem senken wollen. Die Debatte in den USA ist ja bekannt. Dort ist aus politischen Gründen signifikanter Druck auf den Preisen.
Führen solche politischen Sparmaßnahmen dazu, dass Sie Investitionen überdenken und in andere Regionen lenken?
Solche Diskussionen halten uns nicht davon ab, die größten Investitionen weiterhin in Deutschland zu tätigen. Fast ein Drittel unserer Mitarbeiter ist in Deutschland beschäftigt. Wir sind langfristig ausgerichtet, stehen zu Europa und Deutschland als wichtigem Standort.
Spiegelt dies das Selbstverständnis, die Versorgung in den heimischen Märkten zu sichern? Es gab ja im ersten Lockdown eine Debatte über die ungesunde Abhängigkeit von Antibiotika aus chinesischer Produktion und die Notwendigkeit der Rückverlagerung.
Diese Diskussion betrifft vor allem die Hersteller von Generika. In diesem Geschäft sind wir nicht aktiv. Als Boehringer Ingelheim brauchen wir unabhängig vom Marktsegment keine Produktion nach Europa zurückholen, weil wir immer hier geblieben sind. 70% unserer Produktionsarbeitsplätze liegen in Europa, der Schwerpunkt in Deutschland. Natürlich produzieren wir aber auch in Asien.
Die Pandemie beschleunigt die Digitalisierung. Wie weit ist die Transformation bei Boehringer Ingelheim vorangekommen?
Man muss in der Frage zwischen der Digitalisierung und der sogenannten klassischen IT unterscheiden. Wir haben in der Vergangenheit sehr stark in IT investiert, um unsere Mitarbeiter mit dem nötigen Equipment auszustatten. Bei uns hat zum Beispiel keiner mehr ein Festnetztelefon. Daneben geht es aber um die Implementierung digitaler Geschäftsmodelle.
Wo legen Sie die Schwerpunkte?
Wir haben 2017 das digitale Labor BI X gegründet – und zwar in Ingelheim. Um die richtigen Mitarbeiter für einen Umzug begeistern zu können, mussten wir intensiv die Vorzüge unseres Standortes und des Labs erklären. Wir haben es erfolgreich aufgebaut und treiben Innovationen voran.
Wie viele Leute sind im BIX?
Mittlerweile sind es 70 Mitarbeiter. Das BIX versteht sich als Inkubator und konzentriert sich auf die Pilotphase. Halten wir das Modell für aussichtsreich, übernimmt ein Product-Team aus der klassischen IT und skaliert den Prototypen zusammen mit den Geschäftsfunktionen. Somit können Ideen sehr schnell umgesetzt oder genauso schnell verworfen werden. Wir haben das BIX kürzlich erweitert und in Schanghai ein eigenes Team aufgebaut. In der Digitalisierung hat China andere Plattformen. Dort gibt es andere regulatorische Voraussetzungen und andere Technologien.
Welche digitalen Produkte hat man sich vorzustellen?
Wir nutzen viele Technologien, um die Medikamentenentwicklung zu beschleunigen. Der smarte Forschungsassistent „Adam“ vermag es zum Beispiel, mit Hilfe von lernenden Algorithmen neue Arzneimittel zu finden. Wir unterstützen unsere Forscher, durch künstliche Intelligenz bessere Moleküle schneller zu designen.
Gibt es auch digitale Produkte für Patienten?
Ja, in der Tiermedizin. Über unsere Petpro-Connect-Plattform verbinden wir zum Beispiel in den USA Tierärzte und Haustierhalter über eine App, bieten eine digitale Patientenakte für Haustiere an und Videokonsultation sowie andere Funktionen.
Es soll auch ein erstes digitales Therapeutikum gegen Schizophrenie geben?
Hier wird künstliche Intelligenz zur Sprachanalyse eingesetzt, um psychische Krankheiten früher zu erkennen und effektiver behandeln zu können. Bei diesem Produkt arbeiten wir mit einer externen Firma zusammen. Ein digitales Therapeutikum zu etablieren mit allen regulatorischen Anforderungen ist äußerst herausfordernd und hochkomplex.
Kommen wir zu klassischen CFO-Themen. Wie ist Boehringer in der Finanzierung durch die Krise gekommen? Der Kassenbestand war Ende 2020 um 2,4 Mrd. Euro höher als zwölf Monate vorher. Haben Sie die Liquidität bewusst hochgefahren?
Das spiegelt vor allem den Erfolg des Unternehmens wider, Risikoaspekte spielen dabei keine Rolle. Wir sind und wollen ein Familienunternehmen bleiben, hohe Liquidität und starke Eigenkapitalquote sichern unsere Unabhängigkeit. Aus diesem Grund halten wir die Liquidität hoch und den Verschuldungsgrad sehr niedrig.
Ist ein Auftritt am Kapitalmarkt denkbar – 2009 war ein Schuldschein über 900 Mill. Euro begeben worden?
Es gibt derzeit keine Notwendigkeit für eine Finanzierung über den Kapitalmarkt, wir streben auch kein Rating an. Sollte etwas kommen, sind wir finanziell gut aufgestellt. Eine Finanzierung könnten wir jederzeit mit unseren Banken abstimmen.
Wie aktiv schauen Sie sich nach Akquisitionen um?
Unser Schwerpunkt liegt auf organischem Wachstum. Ansonsten investieren wir über den Boehringer Ingelheim Venture Fund in junge, vielversprechende Unternehmen. Unser Fondsvolumen beträgt 300 Mill. Euro, und derzeit sind wir in 30 Unternehmen investiert. Seit Auflage des Fonds im Jahr 2010 gab es zehn erfolgreiche Exits. Vier dieser Start-ups haben wir übernommen. Es geht uns also um Early-Stage-Investments.
Wie messen Sie als nicht börsennotiertes Unternehmen Ihre Wertentwicklung?
Wir steuern Boehringer Ingelheim wie ein börsennotiertes Unternehmen und schauen uns die üblichen Finanzkennzahlen für Wachstum, Profitabilität, Cash-flow und Kapitalrendite an. Da das Geschäft stark von Innovationen getrieben ist, verwenden wir zudem Kennzahlen, um unsere Innovationskraft zu messen. Darüber hinaus spielen ESG-Parameter wie Wasserverbrauch oder Mitarbeiterzufriedenheit eine Rolle.
Das Interview führte