Industrie 4.0 beflügelt Individualisierung
Von Daniel Schauber, zzt. BerlinIndustrie 4.0, also die mithilfe von Big Data optimierte Fertigung, bietet vor allem in der Produktion von individualisierten Einzelstücken große Vorteile, zum Beispiel in der Möbelindustrie. In der Serien- und Massenproduktion sind die Effizienzgewinne weniger groß. Das wurde deutlich auf dem Deutschen Maschinenbau-Gipfel in Berlin, auf dem sich die Branche zur Nabelschau trifft.Die Mehrzahl der Teilnehmer beim Maschinenbau-Gipfel in Berlin erwartet von Big Data im Unternehmen vor allem Fortschritte in der Produktion und in der Lieferkette, weniger im Service, wie eine Blitzumfrage unter rund 120 Teilnehmern ergab. Das kontrastiert mit den von Unternehmensberatungen verbreiteten Ergebnissen, die vor allem bei Dienstleistungen große Sprünge erwarten. Als größten Hemmschuh bei der Entwicklung zur Industrie 4.0 schätzte das auf dem Maschinenbau-Gipfel vertretene Publikum den unklaren wirtschaftlichen Nutzen und fehlenden Reifegrad der erforderlichen Technologien ein – auch das ist ein überraschendes Ergebnis, denn Unternehmensberater verheißen durch die Vernetzung der Produktion über das Internet der Dinge gewaltige Produktivitätssprünge.Vor allem bei der maßgeschneiderten Fertigung von Produkten biete Industrie 4.0 große Vorteile, sagte Peter Post, Forschungsleiter des mittelständischen Automatisierungstechnikherstellers Festo. Die neue Technologie werde sich dagegen dort, wo große Stückzahlen in Serienprozessen gefertigt werden, erst später durchsetzen, denn in der Massenfertigung seien die klassischen Produktionstechniken noch ausreichend effizient. “Dort, wo es um Variantenreichtum geht, wird man in erster Linie Anwendungen für Industrie 4.0 sehen”, so Post. Losgröße 1Ein Beispiel hatte Markus Flik, Vorstandschef des Holzbearbeitungsmaschinenherstellers Homag, parat. So habe der österreichische Möbelhersteller Hali seine Fertigung von maßgeschneiderten Möbeln weitgehend automatisiert. Maschinen holten Rohstoffe aus dem Lager und bohrten, dübelten und frästen vollautomatisch mithilfe der hinterlegten Fertigungsdaten in Losgröße 1. Mit den “intelligenten” Maschinen habe Hali bei gleichem Personal eine Kapazitätssteigerung von 30 % erreicht.Auch wenn in diesem Beispiel offensichtlich wird, dass sich durch Automatisierung Arbeitsplätze in großem Stil wegrationalisieren lassen, so widersprachen die Referenten vehement der These, dass die angeblich bevorstehende vierte industrielle Revolution zum Verschwinden des Menschen aus der Fabrikation führen werde. “Wir sind weit davon entfernt, über eine menschenleere Fabrik zu diskutieren. Der Mensch wird sogar noch dringender gebraucht als heute”, sagte Post.Dabei bezog er sich vor allem darauf, dass für die Umstellung auf die datenbasierte Produktion hoch qualifizierte Spezialisten gebraucht werden. Flik pflichtete ihm bei. “Es gibt nicht genug Maschinenbauingenieure von der Fachhochschule oder Uni mit Kenntnis in Softwareentwicklung für Maschinen.” Aber nicht nur für Hochqualifizierte, auch für ungelernte Arbeiter gebe es noch einen Platz, hieß es. Diese hätten beispielsweise Chancen, wenn sie durch elektronische Informationen, die ihnen etwa durch Datenbrillen eingegeben werden, höher qualifizierte Aufgaben nach Anweisung ausführen würden.Von mehreren Rednern auf dem Maschinenbau-Gipfel wurde hervorgehoben, dass Industrie 4.0 eher ein evolutionärer als ein revolutionärer Prozess sei, der sich nicht mehr aufhalten lasse. “Industrie 4.0 ist ein Label für das, was in der Industrie ohnehin erforderlich ist”, so Post. Auch Theo Niehaus, Geschäftsführer der Festo-Tochter Didactic, vertrat vehement die These, dass es Beschäftigten mit dem technischen Fortschritt besser gehen werde. “Ich bin der Überzeugung, dass uns durch Industrie 4.0 ein Job Enrichment bevorsteht”, sagte er. Der Mensch werde stärker in eine Treiberrolle und weniger in eine Überwachungsrolle im Betrieb gebracht. Auch die Bildungsanforderungen würden durch die Digitalisierung in der Produktion zunehmen. “Vielleicht gibt es auch mal an der Uni einen Abschluss als Master für Industrie 4.0.” Die Ideen fehlen nochDeutlich wurde auf dem Maschinenbau-Gipfel auch, dass es noch ein langer Weg ist, bis sich die neue Fertigungstechnik tatsächlich durchsetzt. Nur rund die Hälfte der in der Blitzerhebung in Berlin anwesenden befragten Maschinenbauer gab an, Geschäftsideen für Industrie 4.0 in ihrem Betrieb zu haben.Auch gebe es noch zu viele Barrieren bei der elektronischen Zusammenführung der Produktionsmittel, unter anderem wegen fehlender Standardisierung bei der Softwaresteuerung. Und hinderlich für eine Umrüstung sei auch, dass es schon eine riesige Basis konventioneller, gut funktionierender Produktionstechnik gebe.—– Leitartikel Seite 6