"Jetzt wollen wir da richtig Gas geben"
Herr Boser, in Deutschland und anderen Märkten von Auto1 wird das öffentliche Leben wieder empfindlich eingeschränkt. Wirkt sich die Pandemie im Geschäft mit Gebrauchtwagen aus?Unser Kerngeschäft ist der An- und Verkauf von Gebrauchtwagen online. Und was wir aktuell sehen, ist, dass sich die Trends Richtung Online-Handel während der Pandemie insgesamt deutlich beschleunigt haben. Die Fortschritte, die wir erst in den nächsten zehn Jahren erwartet hatten, vollziehen sich nun viel schneller. Kunden, die vor Corona gar nicht erst überlegt hätten, ob sie ihren nächsten Pkw online kaufen würden, denken jetzt sehr genau darüber nach, ob sie wirklich Händler vor Ort besuchen wollen und dabei vielleicht sogar die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen müssen. Es gibt plötzlich eine viel größere Bereitschaft, den Autokauf online zu erledigen. Das gibt unserem Geschäftsmodell langfristig einen enormen Rückenwind. Wie ist Auto1 operativ durch die Pandemie gekommen?Das Schöne an unserem Geschäftsmodell ist, dass wir jede Sekunde die Preise anpassen können und auch zentral steuern, in welchen Kohorten von Autos wir ins Risiko gehen. Das gibt uns eine große Flexibilität. Ab Anfang März sind wir zunächst in Italien und dann nach und nach in ganz Europa immer weniger ins Risiko gegangen. Ende März haben wir den Ankauf von Gebrauchtwagen kurzzeitig gestoppt, aber der Verkauf lief weiter. Und auch wenn die Pandemie für niemanden gut ist, gab es für uns durchaus positive Effekte. Zum Beispiel?Zum einen haben wir damals fast unseren kompletten Bestand in nur einem Quartal abverkauft und damit bewiesen, dass wir das Risiko richtig einschätzen und in einer Krise die Umschlaggeschwindigkeit schnell hochfahren können. Auf der operativen Ebene noch wichtiger ist aber, dass wir den Ankaufsprozess online von zu Hause enorm weiterentwickelt haben. Unsere Kunden können ihr Auto ganz einfach und sicher von zu Hause aus bewerten lassen und erhalten unmittelbar einen verlässlichen Preisvorschlag. Wir sind auf unserem Weg, den Gebrauchtwagenmarkt vollständig zu digitalisieren, einen großen Schritt vorangekommen. Was hat Corona damit zu tun?Was wir vor der Pandemie nicht so eindeutig wussten: Sind die Leute wirklich bereit, sich die Zeit zu nehmen, um alle Daten ihres Fahrzeugs, inklusive kleinerer Mängel wie Kratzer, komplett online darzustellen? Aber das funktioniert sehr gut. Wir erhalten jetzt viel bessere Daten und können so noch präzisere Preisvorschläge machen. Die Zahl der Autos, die wir auf diesem Weg ankaufen, ist stark gestiegen, und auch die Kundenzufriedenheit liegt deutlich höher. Die Pandemie ist für niemanden gut, auch nicht für uns. Aber sie hat uns operative Verbesserungen ermöglicht, die für unser Geschäft langfristig sehr gut sind – auch für den geplanten Ausbau des Geschäfts mit Endverbrauchern. Mit Wirkaufendeinauto.de kauft Auto1 Fahrzeuge an und reicht sie an Händler weiter. Mit der Marke Autohero expandieren Sie in den Verkauf an Endverbraucher. Ist das eine Reaktion auf die Pandemie?Nein, das ist eine Strategie, die wir schon seit mindestens zwei Jahren verfolgen und in einigen unserer Kernmärkte auch bereits sehr erfolgreich ausgerollt haben. Aber jetzt wollen wir da richtig Gas geben. Das nötige Kapital für die weitere Expansion mit Autohero haben wir Ende März mit einem Wandeldarlehen eingesammelt. Weil wir im Frühjahr sehr konservativ Autos angekauft haben, sind zwar auch die Verkaufszahlen auf Autohero etwas weniger gewachsen. Die Strategie wird aber unabhängig von der Pandemie mit Nachdruck weiterverfolgt. Welche Erwartungen haben sie an dieses Geschäft?Wir sehen da ein riesiges Wachstumspotenzial. Schauen Sie sich Carvana in den USA an, die dort längst bewiesen haben, wie gut dieses Geschäft funktioniert. Und der Verbrauchermarkt ist natürlich viel größer als der Händlermarkt. Wenn man in die Zukunft schaut, wäre es daher folgerichtig, dass dieses Geschäft irgendwann auch für uns der größere Markt sein wird. Wir haben bescheiden angefangen. Aber unser Plan ist hier, sehr schnell zu wachsen. Wie sieht der Gebrauchtwagenmarkt in Europa eigentlich im Gesamten aus?Wir sprechen allein in Europa von einem bis zu 700 Mrd. Euro großen Markt, wenn man das Geschäft mit dem Endverbraucher, B2B und die Finanzierung zusammenrechnet. Wir haben im vergangenen Jahr 3,5 Mrd. Euro Umsatz gemacht. Da gibt es also noch viel Potenzial. Gleichzeitig ist der Markt sehr fragmentiert. Wir sind, gemessen an den verkauften Einheiten, mit Abstand der größte Spieler in Europa. In Deutschland haben die zehn größten Anbieter zusammen gerade einmal rund 4 % Anteil an diesem Markt. Es gibt in ganz Kontinentaleuropa meines Wissens keine einzige gelistete Händlergruppe. England und Amerika haben eine ganze Menge, das ist ziemlich verrückt. Wir sehen deshalb eine riesige Chance, online starke und vertrauenswürdige Marken für den An- und Verkauf von Gebrauchtwagen zu etablieren. Gibt es für Auto1 Zielkonflikte zwischen B2B- und B2C-Geschäft?Nein, das sind zwei ganz verschiedene Märkte. Die Gebrauchtwagen, die wir ankaufen und an den Handel weiterverkaufen, sind Autos, die oft schon zwei oder drei Vorbesitzer hatten. Die Autos, die wir an Endverbraucher verkaufen, sind neuere Gebrauchtwagen. Das sieht man auch an den Verkaufspreisen: Die Autos bei Autohero sind im Durchschnitt ungefähr doppelt so viel wert wie unsere Händlerwagen. Die Händler, die von uns kaufen, sind also in den seltensten Fällen die, mit denen wir im Endkundengeschäft konkurrieren. Welche Länder haben Sie mit Autohero im Blick?Wir fokussieren uns auf die Märkte, in denen wir bereits mit unserem Gebrauchtwagenankauf vertreten sind, das heißt vor allem unsere Kernmärkte in Westeuropa. Das ist nicht nur ein riesiger Markt, sondern mit Blick auf die Internetpenetration aus unserer Sicht auch noch wenig erschlossen. Viele Leute behaupten zwar, dass sie ihr Auto im Internet kaufen. Aber eigentlich schauen sie sich das Auto nur online an, während der eigentliche Verkaufsprozess, die Finanzierung und alles was dazugehört, keine Online-Erfahrung ist. Genau das wollen wir ändern. Wie sieht das bei Autohero aus?Bei uns sieht der Kunde den Gebrauchtwagen online genauso, als würde er davorstehen. Der Kunde sieht alle Details, auch jeden kleinen Kratzer, und das gibt ihm das Vertrauen, das Auto online kaufen zu können, ohne es bei einem Händler vor Ort gesehen zu haben. Dann klickt der Kunde drauf, und ein paar Tage später bekommt er das Auto entweder vor das Haus geliefert oder er kann es in einer unserer Filialen abholen. Das ist ein rein digitales Kauferlebnis, so wie Sie das aus anderen Branchen etwa von Amazon oder Zalando kennen. Wie geht es nach Ihrem Ausstieg aus dem Joint Venture mit Allianz und Deutscher Bank mit dem Thema Finanzierung weiter?Die Händlerfinanzierung ist aktuell kein Thema, was bei uns ganz oben auf der Agenda steht. Wir sehen aber großes Potenzial, die Finanzierung des Autokaufs für Endkunden zu verbessern. Die neue europäische Zahlungsdienste-Richtlinie PSD2 bietet hier große Chancen. Weil wir das Auto verkaufen und dann physisch liefern, können wir beispielsweise auch Themen wie KYC (Legitimationsprüfung; die Red.) ganz einfach lösen, so dass der ganze Prozess völlig reibungslos und für den Kunden so praktisch wie möglich abläuft. Da sehen wir auch noch viele weitere Möglichkeiten, die Konsumentenerfahrung zu optimieren. Gibt es auch anorganisches Wachstumspotenzial für Auto1?Wir haben neben dem C2B- und dem B2C-Geschäft auch organische Wachstumsmöglichkeiten im B2B-Geschäft, in dem Händler untereinander Gebrauchtwagen über unsere Plattform handeln. Wir bieten Händlern hier einen komplett digitalen Prozess mit Schnittstellen zu mehr als 60 000 anderen Händlern. So können sie ihre Autos jederzeit digital vermarkten. Außerhalb unserer Plattform laufen solche Händlerauktionen vielleicht einmal in der Woche ab. Auf unserer digitalen Plattform läuft die Auktion permanent, jeden Tag, jede Minute. Zukäufe sind kein Thema?Wir schauen uns den Markt natürlich immer an, und man soll nie Nein sagen, etwa wenn es um kleinere Technologie-Zukäufe geht. Aber M&A im großen Stil ist für uns derzeit kein Thema. Gibt es aktuell weiteren Finanzierungsbedarf?Mit dem Convertible sind wir auf der Finanzierungsseite gut aufgestellt. Und wir bekommen natürlich auch Bankfinanzierung für den Fahrzeugbestand. Das Wandeldarlehen war vor allem für das Wachstum mit Autohero gedacht. Auto1 gilt als Kandidat für einen Börsengang. Ist die Firma aus Sicht des CFO fit für ein IPO?Wir haben eine starke Marke und starke Prozesse, und wir sind in unseren Kernmärkten schon heute profitabel, aber es gibt keinen unmittelbaren Bedarf für einen solchen Schritt. Das ist letztendlich eine Frage für die Investoren und auch des richtigen Zeitpunkts. Es gibt aber auch keine konkreten Meilensteine, die wir vor einem solchen Schritt noch abarbeiten müssten. Das Schöne ist ja, dass wir im vergangenen Jahr mit 3,5 Mrd. Euro Umsatz bewiesen haben, dass wir ein sehr starkes Kerngeschäft haben. Und jetzt setzen wir alle Kraft in den Ausbau unseres B2C-Geschäfts, wo wir enormes Wachstumspotenzial für viele Jahre sehen. Mit Hakan Koç wechselt einer der Gründer in den Aufsichtsrat, Sie bilden mit Co-Gründer Christian Bertermann den Vorstand. Ist das die Aufstellung für ein IPO?Wir sind auch aus dieser Perspektive sehr gut aufgestellt. Wir haben eine super Mannschaft. Neben Christian und mir sind es 4 500 Leute und ein wirklich starkes Management-Team. Viele von unseren Top-Führungskräften sind schon seit Gründung der Firma dabei. Das ist eine starke Mannschaft, von Finanzen über Recht und Risiko bis hin zu Operations, Technologie, Marketing und Vertrieb. Mit diesem Team sind wir gut für alles aufgestellt. Das Interview führte Stefan Paravicini.