RECHT UND KAPITALMARKT

Kleinanlegerschutz und Versicherungsaufsicht

Rolle der BaFin im Verbraucherrecht aufgewertet - Paradigmenwechsel mit erheblichen Auswirkungen auf die Assekuranz

Kleinanlegerschutz und Versicherungsaufsicht

Von Wessel Heukamp und David Schwintowski *)Deutschland diskutiert über den Entwurf des Kleinanlegerschutzgesetzes, welcher am 12. November vom Bundeskabinett verabschiedet wurde. Doch während sich die öffentliche Diskussion bisher in erster Linie auf neue Prospektpflichten und die Nachteile des Entwurfs für die digitale Wirtschaft konzentriert, könnte das Gesetz – quasi unbemerkt – auch einen Paradigmenwechsel für die deutsche Versicherungsaufsicht einleiten. Worum geht es?Die Versicherungsaufsicht wird hierzulande von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) wahrgenommen, die vom Gesetzgeber zu diesem Zweck mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet wurde. So sieht das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) in seinem § 81 vor, dass die BaFin alle Anordnungen treffen kann, die geeignet und erforderlich sind, Missstände zu vermeiden oder zu beseitigen. Diese “Missstandsaufsicht” bereitet schon jetzt der Versicherungswirtschaft erhebliche Schwierigkeiten, weil im Einzelfall schwer zu ermitteln ist, was eigentlich genau ein Missstand ist. Auftrag der Aufsicht größerJedenfalls aber hat die BaFin die Missstandsaufsicht bisher nicht zum Anlass genommen, Versicherungsunternehmen dazu zu verpflichten, Einzelfallentscheidungen von Zivilgerichten auf gleich oder ähnlich gelagerte Fälle im Bestand der Versicherer zu übertragen. Stattdessen sei es in erster Linie Aufgabe der Versicherungsnehmer selbst, ihre Rechte jeweils individuell vor den Gerichten geltend zu machen. Hintergrund dieser Praxis dürfte vor allem sein, dass sogar scheinbar gleich gelagerte Fälle wegen ihrer Komplexität gegebenenfalls juristisch unterschiedlich zu beurteilen sind. Anders als beispielsweise die Prudential Regulatory Authority in Großbritannien begreift sich die BaFin daher nicht als “ubiquitäre Beschützerin der Versicherungsnehmer”.Das könnte sich ändern. Das Kleinanlegerschutzgesetz erweitert den gesetzlichen Auftrag der Aufsicht nämlich (zumindest formal) um einen entscheidenden Baustein: den kollektiven Verbraucherschutz. Nach dem Willen der Bundesregierung soll die BaFin verpflichtet sein, verbraucherschutzrelevante Missstände zu verhindern oder zu beseitigen, wenn eine generelle Klärung im Interesse des Verbraucherschutzes geboten ist. Ein solcher Missstand liegt, vereinfacht gesprochen, vor, wenn ein Unternehmen wiederholt gegen ein Verbraucherschutzgesetz verstößt und die Interessen einer Reihe von Verbraucher gefährdet sind.Nun dürfte es zutreffen, dass die BaFin bei Verstößen gegen Verbraucherschutzgesetze schon bisher im Rahmen der allgemeinen Missstandsaufsicht gegen die Versicherer vorgehen konnte. Gleichwohl kann die neue Regelung im Kleinanlegerschutzgesetz aber weitergehend als Appell an die BaFin verstanden werden, von ihrer bisherigen Praxis abzuweichen und künftig neben den Zivilgerichten erheblich stärker die Durchsetzung von vertraglich relevanten Versicherungsnormen in den Fokus zu nehmen.In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick in die Regierungsbegründung des Gesetzesentwurfs: Zwar stellt die Bundesregierung klar, dass Verbraucher keinen individuellen Anspruch auf Tätigwerden der BaFin haben (es geht ja um den Schutz der Verbraucher in ihrer Gesamtheit); aber – und das ist interessant – die BaFin soll auch dann tätig werden, wenn ein Unternehmen eine einschlägige Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Anwendung einer zivilrechtlichen Norm mit verbraucherschützender Wirkung nicht auf alle Versicherungsnehmer anwendet. Was kann das nun im Kontext des Versicherungsrechts bedeuten? Ein Beispiel: Im vergangenen Jahr beschäftigte sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit folgendem Fall: Der Kläger, ein Herr Endress, hatte mit Wirkung zum 1. Dezember 1998 eine Rentenversicherung bei der Allianz, für die er als Vertreter arbeitete, abgeschlossen. Im Zuge des Vertragsschlusses hatte ihn die Allianz jedoch nicht hinreichend über das ihm zustehende zweiwöchige Verbraucherwiderspruchsrecht belehrt. Damit stand Endress zunächst zwar ein dauerhaftes Widerspruchsrecht zu; dies erlosch aber nach der damals in Deutschland geltenden Gesetzeslage ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie. Endress zahlte die Prämien vertragsgemäß. Nach zehn JahrenErst knapp zehn Jahre später widerrief er seinen Vertrag und forderte von der Allianz die Rückzahlung seiner Prämien zuzüglich Zinsen. Der EuGH gab ihm recht und entschied, dass die deutsche Regelung, wonach das Widerspruchsrecht nach einem Jahr untergehen sollte, europarechtswidrig war. Letztendlich gestand der EuGH damit Herrn Endress ein unendliches Widerspruchsrecht zu.Der Endress-Fall ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Er gehört zu den am meisten derzeit in Deutschland diskutierten Urteilen, weil nahezu alle Versicherer Renten- und Lebensversicherungspolicen verkauft haben, bei denen eine ordnungsgemäße Belehrung über das Widerspruchsrecht jedenfalls zweifelhaft ist. Für einen Versicherer entsteht durch das EuGH-Urteil dann ein Schaden, wenn die Summe der Prämien, welche der Versicherer an den Versicherungsnehmer zurückzahlen muss, über dem Wert der Police liegt. Das ist – nach den Turbulenzen der Finanzkrise und aufgrund der anhaltenden Niedrigzinssituation – häufig der Fall. Der für die deutsche Versicherungswirtschaft geschätzte potenzielle Maximalschaden geht laut Beobachtern bis in den zweistelligen Milliardenbereich.Einziger Trost für die Versicherer war angesichts der durch sie weitgehend unverschuldet hervorgerufenen Situation bislang, dass sich der Schaden aus einer Reihe von Gründen nicht in voller Höhe und nicht sofort realisiert. Dazu gehörte beispielsweise, dass viele Versicherungsnehmer nicht die Chance ergreifen, die völlig unverhoffte Volte des EuGH dazu zu nutzen, nach vielen Jahren des Versicherungsschutzes und der Chance auf ordentliche Erträge aus einem derzeit nicht erfreulich laufenden Investment auszusteigen. Dies auf Kosten der zurückbleibenden Versichertengemeinschaft und der Aktionäre.Das könnte sich jedoch ändern, wenn die BaFin die ihr vom Kleinanlegerschutzgesetz zugedachte neue Rolle ernst nimmt. Sollte die BaFin nämlich der Auffassung sein, dass der jetzige Zustand im Kontext des Endress-Falles einen verbraucherschutzrelevanten Missstand im Sinne des Kleinanlegerschutzgesetzes darstellt, könnte sie auf ein breit gefächertes Repertoire von Anordnungen gegenüber den Versicherern zurückgreifen. Sie könnte die Versicherungen beispielsweise im Extremfall dazu zwingen, an alle Versicherungsnehmer das konkrete Angebot zu richten, die erhaltenen Versicherungsprämien zurückzuzahlen und erhebliche Rückstellungen zu bilden. In vielen Fällen – wie beim unendlich laufenden Widerspruchsrecht – würde das zu vollkommen unangemessenen Ergebnissen führen. Gleichgewicht gefragtDer Endress-Fall dient lediglich Illustrationszwecken. Vergleichbare Fälle kommen in der Praxis aber immer wieder vor (wenn auch nicht immer mit der gleichen finanziellen Dimension). Es ist daher denkbar, dass das Kleinanlegerschutzgesetz einen Paradigmenwechsel in der Versicherungsaufsicht einleitet, der das bestehende Kompetenzgefüge zwischen Aufsicht einerseits und zivilrechtlicher Jurisprudenz andererseits nachhaltig beeinflusst; die wirtschaftlichen Folgen für die Versicherer könnten erheblich sein.Wie bei vielen neuen Gesetzen werden sich auch beim Kleinanlegerschutzgesetz eine Reihe von Detailfragen stellen. Fest steht jedenfalls, dass der Gesetzgeber die Rolle der BaFin im Verbraucherschutz- und damit indirekt auch im Versicherungsaufsichtsrecht aufgewertet hat. Ob und mit welcher Verve die BaFin diesen gesetzgeberischen Auftrag verfolgen wird, bleibt indes abzuwarten. Zu hoffen ist aber, dass die BaFin dabei das Gleichgewicht zwischen Schutz der Belange der Versicherungsnehmer und Wahrung der Interessen der Versicherungsunternehmen (und damit auch der des Versichertenkollektivs) nicht aus den Augen verliert. Dies sollte auch im Gesetz in geeigneter Weise seinen Ausdruck finden.—-*) Dr. Wessel Heukamp ist Partner, Dr. David Schwintowski Anwalt bei Freshfields Bruckhaus Deringer.