SIEMENS VOR NEUORDNUNG - LETZTER TEIL: UNTERNEHMENSKULTUR

"Kultur verspeist Strategie zum Mittagessen"

Siemens-Vorstandsvorsitzender Kaeser steht mit seiner Person für die Neuordnung des Konzerns - Ziel ist die Etablierung einer Performance-Einstellung

"Kultur verspeist Strategie zum Mittagessen"

Von Michael Flämig, MünchenPersonalisierung ist die Pest unserer Zeit. Die Frage des lesenden Kapitalmarktbeobachters könnte daher ständig lauten: Ist die Verengung der öffentlichen Wahrnehmung auf einen Vorstandsvorsitzenden beispielsweise bei strategischen Entscheidungen gerechtfertigt? Wer die Antwort “Nein” wählt, liegt fast nie daneben.Wenn Siemens-Chef Joe Kaeser am 8. Mai die Neuordnung des Konzerns verkündet, wird dennoch seine Person im Zentrum stehen. Eine derartige Rezeption nähert sich in diesem Fall durchaus der betrieblichen Realität: Kaeser symbolisiert nicht nur die Neuordnung, er ist ihre Verkörperung und ihr Treiber.Kaeser allerdings kennt nicht nur seine Bedeutung, sondern auch seine Beschränkungen. Ein Erfolgsfaktor einer gelungenen Kommunikation sei die Kraft des Teams, sagte er beispielsweise kurz vor seinem Amtsantritt im vergangenen Sommer. Niemand sei auch nur annähernd perfekt: “Aber ein Team kann es sein.” Schweigen ist TrumpfIm besten Fall stimmt es, dass Perfektion so erreichbar ist. Ob dies für den 8. Mai gilt, wird sich weisen. Der Clou im Fall Kaeser: In seiner 34-jährigen Siemens-Karriere hat er viele Entscheidungsträger auf sich verpflichtet – und zwar nicht nur qua Hierarchie oder Förderung, sondern durch seine Persönlichkeit. Dies erhöht die Erfolgsaussichten der Neuausrichtung. Denn so sehr er auf Teams setzen muss, so eng kann er sie an sich binden. Nur dadurch ist erklärbar, dass auch der Aktienmarkt nach der Ernennung Kaesers einer Personalisierung frönte, indem er – ohne jedwelchen inhaltlichen Fingerzeig des Neuen – den Siemens-Kurs zwischenzeitlich mehr als doppelt so schnell wie den Dax steigerte.Zusätzlich hat Kaeser Sicherungsnetze eingebaut. Es wirken auf externer Seite zwei Maßnahmen. Erstens hat er die Wahrscheinlichkeit erhöht, dem Finanzmarkt seine Pläne plausibel machen zu können, indem er die Kommunikation mit Investoren sofort an sich zog und damit das Finanzressort beschnitt. Zweitens musste der – vergleichsweise sowieso recht kleine – Kreis der 8.-Mai-Insider eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschreiben. Durchstechereien lassen sich so sicherlich nicht komplett vermeiden, doch bisher sind sie ausgeblieben. Das allfällige Zerreden des Vorhabens auch in den Medien konnte nicht beginnen.Ist das Projekt der Neuordnung überhaupt schon so weit gediehen, dass es zerredet werden könnte? “Ich hätte Ihnen wahrscheinlich schon im August sagen können, wie es aussehen sollte”, behauptete Kaeser kürzlich im Gespräch mit Analysten. Kein Wunder, schließlich hatte er vor seinem damaligen Amtsantritt sieben Jahre lang Zeit, sich auf der Position des Finanzvorstandes einen Einblick und eine Meinung zu verschaffen. Hätte er also nicht schon zur Bilanzvorlage im November aktiv werden können? “Aber es braucht mehr als eine Person, um diesen Weg zu gehen”, lautete die Erklärung des Vorstandsvorsitzenden.Damit spricht Kaeser einen potenziell kritischen Punkt an: seine interne Durchschlagskraft. Die Verwurzelung im Konzern mag hilfreich sein, letztlich kommt es aber auf die Gremien an. Vom Aufsichtsrat unter dessen Chef Gerhard Cromme droht kein gravierender Gegenwind. Schließlich hat ihn das Kontrollorgan gerade in den Sattel gehoben. Außerdem gilt weiterhin, was Kaeser schon im März zu Analysten sagte: “Ich kann mich an keine wichtige Angelegenheit erinnern, die nicht den Aufsichtsrat passierte, wenn sich der Vorstand dafür einsetzte.” Konsens gesuchtEnger kann es dagegen beim Betriebsrat werden. Positiv aus Sicht von Kaeser: Seine Neuwahl ist abgeschlossen, damit stehen feste Verhandlungspartner zur Verfügung. Der Konzern mit seinem Schwerpunkt in Westeuropa muss in den Gesprächen eine Balance zwischen dem “Wünschbaren und Machbaren” finden, wie Kaeser formuliert.Ein Lockmittel: das Geld. Sogar Analysten kriegen von Kaeser zu hören, bei entsprechender Profitabilität sei es ihm egal, wenn der Anteil der Mitarbeiter am jährlichen Gewinn um einige hundert Millionen Euro steige. Noch wichtiger allerdings ist Kaeser, dass sich die Beschäftigten beispielsweise qua Mitarbeiteraktien als Eigentümer verstehen und entsprechend handeln.Damit ist sein eigentliches Ziel beschrieben: Siemens eine Performance-Kultur einzuimpfen und so eine möglichst hohe Profitabilität zu verstetigen. Der 8. Mai, der nur punktuell wirkt, verblasst im Vergleich zu dieser Aufgabe. Denn es gilt der Spruch des Siemens-Chefs, mit dem er auf die Macht von Tradition und ungeschriebenen Gesetzen in einem Konzern hinweist: “Kultur verspeist Strategie zum Mittagessen.”—-Die Serie umfasste außerdem:- Röntgenblick auf das Siemens-Portfolio (11. April)- Siemens sucht das Zaubermittel Synergien (10. April)- Siemens hat Nachholbedarf in der Kategorie Wachstum (9. April)- Siemens nimmt Kampf um strukturell höhere Marge auf (8. April)