Manipulationsverdacht bei Clariant
dz Zürich
Der Schweizer Spezialchemiekonzern Clariant prüft mögliche Bilanzmanipulationen in den Jahren 2020 und 2021. Im Zuge einer am Montagmorgen veröffentlichten Mitteilung, in der der Konzern auch die Verschiebung der für Mittwoch geplanten Jahresbilanzpressekonferenz und der nachfolgenden Generalversammlung ankündigte, kam es an der Börse zu einem Einbruch des Aktienkurses um bis zu 20%.
Auf einer gestern kurzfristig einberufenen Telefonkonferenz für Journalisten versuchten CEO Conrad Keijzer, Finanzchef Stephan Lynen und Peter Steiner, Leiter des Rechnungsprüfungsausschusses im Verwaltungsrat, ein wenig Licht in die Vorgänge zu bringen. Ein interner Hinweisgeber (Whistleblower) habe bereits im September des vergangenen Jahres verdächtige Beobachtungen gemeldet, die einige Wochen später auch im Verwaltungsrat zur Sprache gebracht worden seien. Im November habe man entschieden, die Angelegenheit von externer Seite untersuchen zu lassen. Die vom Beratungsunternehmen Deloitte und von der Anwaltskanzlei Gibson, Dunn & Crutcher durchgeführte Untersuchung ist nach Angaben von Steiner zwar schon „weit fortgeschritten“, aber doch nicht weit genug, als dass bereits zuverlässige Ergebnisse genannt werden könnten.
Nicht cash-wirksam
Gegenstand der Untersuchung seien gewisse Rückstellungen und Wertberichtigungen, die auf Länderebene möglicherweise unrichtig verbucht worden seien mit dem mutmaßlichen Ziel, Gewinne zu manipulieren. Auf der Telefonkonferenz war vom möglichen Aufbau eines sogenannten „Performance-Buffers“ die Rede. Mit dem Aufbau solcher Leistungspuffer könnten die Verantwortlichen versucht haben, die Leistung der eigenen Geschäftseinheit im Vergleich zu den internen Vorgaben besser aussehen zu lassen.
Steiner sprach von einer „beschränkten Anzahl“ involvierter Personen, die nun in ihren Kompetenzen beschnitten worden seien. Entlassungen hat es bislang aber offenbar keine gegeben. Es gäbe auch keine Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten und auf die Absicht der persönlichen Bereicherung, sagte Steiner. Die mutmaßlichen Manipulationen seien für den Konzern auch nicht Cash-wirksam und beträfen insbesondere nicht die vom Unternehmen ausgewiesenen Umsatzzahlen.
In welchen Geschäftsbereichen die möglichen Manipulationen vorgenommen wurden, gab Clariant nicht bekannt. Steiner sagt aber, die verschiedenen Geschäftsbereiche, die Clariant in den Jahren 2020 und 2021 veräußert hatte, seien nicht betroffen.
Dieser letztere Hinweis ist insofern von Bedeutung, als die Käufer dieser Geschäftsbereiche im Fall von Manipulationen rückwirkend Schadenersatzforderungen stellen könnten. Clariant hat im Juli 2020 ihr Geschäft mit Kunststoff-Farbgranulaten (Masterbatches) für über 1,5 Mrd. Dollar an die US-Firma Avient (vormals Polyone) verkauft. Anfang des laufenden Jahres wurde der Verkauf des Pigmente-Geschäfts für 805 Mill. Dollar an ein Investorenkonsortium besiegelt.
Im November 2020 kündigte Clariant ein Restrukturierungsprogramm an, das bis Ende 2021 rund 600 Arbeitsplätze kosten sollte. Clariant hat gemäß aktuellen Angaben 2021 eine Umsatzsteigerung um 13% auf 4,4 Mrd. sfr und eine Betriebsgewinnmarge zwischen 16% und 17% erreicht. Größte Aktionärin ist die saudische Sabic-Gruppe, die ihren Anteil zu Preisen von über 25 sfr pro Aktie erworben hatte und dem Vernehmen nach nicht unglücklich über eine günstige Ausstiegsgelegenheit sein soll. Die Clariant-Aktien werden aktuell zu 16,50 sfr gehandelt.
Erinnerungen an Evotec
Die Vorgänge bei Clariant wecken Erinnerungen an den Fall Adecco. Der Zeitarbeitsvermittler hatte seine Aktionäre im Januar 2004 mit einem Verweis auf mögliche Bilanzmanipulationen erschreckt und einen Aktienkursabsturz um 37% ausgelöst. Die Investorenstimmung war damals besonders aufgeheizt, nachdem mit Enron (2000) und Worldcom (2002) gleich zwei US-Konzerne und 2003 auch noch der niederländische Einzelhandelsriese Ahold mit milliardenschweren Bilanzskandalen für Schlagzeilen gesorgt hatten. Der Adecco-Skandal erwies sich ein Jahr später zwar als ein Sturm im Wasserglas. Dennoch kostete die Untersuchung des Vorfalles durch eine spezialisierte US-Kanzlei Millionen von Franken.