Mehr analysieren statt nivellieren
Die Genfer Anlagestiftung Ethos nimmt seit 20 Jahren auf Hauptversammlungen kritisch die Stimmrechte ihrer Kunden wahr.dz Zürich – Die Hauptversammlung einer börsennotierten Aktiengesellschaft ist ohne den gewichtigen Einfluss professioneller Stimmrechtsberater kaum mehr denkbar. In den 100 größten Schweizer Unternehmen vertreten diese sogenannten Proxy Advisors im Durchschnitt schon mehr als die Hälfte (57 %) aller anwesenden Aktienstimmen. Vor neun Jahren waren es erst gut 20 % gewesen.Die Genfer Anlagestiftung Ethos ist die mit Abstand größte und auch die älteste Stimmrechtsberaterin in der Schweiz. Sie vertritt im Namen ihrer Kunden – vorwiegend Schweizer Pensionskassen – durchschnittlich etwa 3 % der Aktienstimmen der gut 200 gelisteten Publikumsgesellschaften im Land. Ethos wird demnächst 20 Jahre alt. Die weltweit mit Abstand größte Stimmrechtsberatungsfirma heißt ISS und wurde 1985 in Amerika gegründet – exakt ein Jahr nachdem das US-Arbeitsministerium die öffentlichen Pensionskassen dazu verpflichtet hatte, ihre Aktienstimmen bei einheimischen Firmen wahrzunehmen.In der Schweiz unterstehen seit der Annahme der Volksinitiative für mehr Aktionärsdemokratie und gegen die Abzockerei in den Teppichetagen (Minder-Initiative) alle inländischen Pensionskassen dem Stimmzwang. Doch viele seien dieser Pflicht ausgewichen und hätten ihre Direktanlagen in Fonds umgeschichtet, für die ein solcher Stimmzwang nicht besteht, klagte Ethos-Präsident Dominique Biedermann, als er gestern in Zürich, zusammen mit seinem Direktor Vincent Kaufmann, die Ergebnisse der diesjährigen Hauptversammlungssaison analysierte. Dabei sei die Schweiz “dank Minder doch das einzige Land der Welt, in dem die Aktionäre über die absolute Höhe der Managerlöhne abstimmen können”, sagte Biedermann.Doch drei Jahre nach dem überraschenden Abstimmungsresultat ist eben klar, dass sich mit Minder vieles gar nicht verbessert hat und manches sogar schlechter geworden ist. Schweizer Managergehälter gehören weltweit nach wie vor zu den höchsten, und das auch dann, wenn die Unternehmensleistung solche Zahlungen nicht rechtfertigt. Während die Aktionäre die Vergütungen der Verwaltungsräte und Manager in den 204 untersuchten Schweizer Publikumsgesellschaften im Durchschnitt mit 94 % der Stimmen durchwinkten, sträubte sich Ethos in mehr als einem Drittel aller Fälle dagegen.Mehr als jeder siebte (15,4 %) Abstimmungsantrag an die Aktionäre fällt bei Ethos durch. Damit sind die Westschweizer so kritisch wie kein anderer Stimmrechtsvertreter. Dennoch hat sich Ethos in zwei Jahrzehnten verändert. “One share, one vote ist nicht mehr das sakrosankte Prinzip für uns, das es einmal gewesen ist”, bekannte Kaufmann. Man habe sich beim Kabelmaschinenbauer Komax gegen die vollständige Abschaffung von Stimmrechtsbegrenzungen ausgesprochen, weil die heimliche Machtübernahme einzelner Aktionäre gegen die langfristigen Interessen des Unternehmens, seiner Mitarbeiter und letztlich auch der von Ethos vertretenen Pensionskassen laufen könne. Dabei gehört “One share, one vote” weltweit zu den Best Practices der Unternehmensführung. Doch Kaufmann sagt: “Aktivistische Aktionäre verstecken sich gerne hinter dem Best-Practice-Prinzip, um die eigenen Interessen durchzusetzen.”