GASTBEITRAG

Mehr Wachstum durch EU-weite Harmonisierung des Insolvenzrechts

Börsen-Zeitung, 23.2.2016 Der EU-Binnenmarkt ist die größte Errungenschaft Europas und ein Projekt, das noch immer großes Wachstumspotenzial birgt. Die Finanzdienstleistungsagenda der Europäischen Kommission verfolgt die ehrgeizigen Ziele, eine...

Mehr Wachstum durch EU-weite Harmonisierung des Insolvenzrechts

Der EU-Binnenmarkt ist die größte Errungenschaft Europas und ein Projekt, das noch immer großes Wachstumspotenzial birgt. Die Finanzdienstleistungsagenda der Europäischen Kommission verfolgt die ehrgeizigen Ziele, eine Bankenunion und eine Kapitalmarktunion zu schaffen. Eine Reform und möglichst weitgehende Harmonisierung des Insolvenzrechts in Europa würde das Erreichen beider Ziele unterstützen. Flickenteppich in EuropaDenn während die USA ihr Chapter-11-System haben, herrscht in Europa nach wie vor ein Flickenteppich widersprüchlicher Insolvenzregimes. Die effektivsten nationalen Regelungen – beispielsweise in Deutschland, Großbritannien und in Finnland – bieten Unternehmen die besten Chancen, ihr Vermögen zu erhalten, rasch zu sanieren und wieder auf die Beine zu kommen. Die am wenigsten effektiven Regelungen verzögern die Sanierung und können Unternehmen und Gläubiger in lange, kostspielige und komplexe Verfahren zur Verteilung einer schwindenden Vermögensbasis verwickeln. Ganz offensichtlich sind solche ineffektiven Insolvenzregelungen sehr abschreckend für grenzüberschreitende Investitionen.Der EU-Kommissar für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Union der Kapitalmärkte, Lord Hill, hat eine stärkere Harmonisierung der europäischen Insolvenzregelungen zu einer der Prioritäten für die Kapitalmarktunion erklärt. Die Richtigkeit dieser Entscheidung wird durch starke wirtschaftliche Indizien gestützt. Bestehende Untersuchungsergebnisse legen nahe, dass Firmen in Ländern mit einer effektiven Insolvenzgesetzgebung besseren Zugang zu Finanzierung haben. Außerdem fördern wirksame Insolvenzregelungen auch tiefere und effizientere Kapitalmärkte und ein höheres Niveau an Unternehmertum. Entschuldung der BankenBesonders wichtig ist, dass effektive Insolvenzregelungen wesentliche Beiträge zur schnelleren Entschuldung von Volkswirtschaften leisten. Dies ist eine dringende Herausforderung für ein EU-Bankensystem, das nach wie vor mit einem hohen Anteil notleidender Kredite belastet ist. Der IWF vertritt die Ansicht, dass ein Abbau des hohen Bestands an notleidenden Krediten einem Befreiungsschlag für die Bilanzen der Banken gleichkäme, durch den im Euroraum bis zu 500 Mrd. Euro an neuen Krediten verfügbar würden. Auch deshalb sehen IWF und EZB eine Insolvenzrechtsreform als unumgänglich an.Aus einer aktuellen Untersuchung geht erstmals eine Schätzung der möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen einer solchen Reform in Europa hervor: Sie zeigt, dass eine Verbesserung der Sanierungsrate bei Insolvenzen um 10 Prozentpunkte die Spreads von Unternehmensanleihen um 18 bis 37 Basispunkte verringern sollte. Bezogen auf die gesamte Wirtschaft könnte dieser geringere Risikoaufschlag das BIP der EU langfristig um 0,3 bis 0,55 % bzw. 41 bis 78 Mrd. Euro steigern. Die größten Zuwächse in absoluten Zahlen würden in großen Volkswirtschaften wie Italien und Spanien anfallen. Jedoch würden Mitgliedstaaten wie Griechenland, Ungarn und Rumänien relativ am meisten gewinnen und könnten ihr langfristiges BIP um ganze 2 % steigern, wenn es ihnen gelingt, ihre Insolvenzregimes dem europäischen Durchschnitt anzugleichen. Unkoordinierte FortschritteWie also kann sich Europa diese bedeutenden wirtschaftlichen Zuwächse sichern? In einzelnen Mitgliedstaaten gibt es schon Fortschritte, insbesondere in Italien, den Niederlanden und der Tschechischen Republik. Doch diese Reformen sind weder koordiniert noch einheitlich. Es handelt sich dabei mehr um unsystematische Fortschritte als um einen großen Schritt vorwärts für den EU-Binnenmarkt. Erforderlich ist vielmehr eine beschränkte und umsichtig geplante Harmonisierung des Insolvenzrechts auf EU-Ebene.Frischer Schwung dürfte von einem neuen Gesetzgebungsvorschlag kommen, den die Kommission im Dezember veröffentlichen wird. Dabei sollte der neue EU-Vorschlag vier Prioritäten setzen: Erstens sollten alle Mitgliedstaaten ein Chapter-11-ähnliches Ruhen des Verfahrens bieten, um eine schnelle und effektive Sanierung zu ermöglichen. Zweitens sollte der Finanzierung und Bereitstellung neuen Arbeitskapitals höchste Priorität eingeräumt werden. Drittens benötigen die Gläubiger stärkere Rechte, um gangbare Sanierungspläne vorzuschlagen. Und viertens sollten die nationalen Insolvenzbehörden regelmäßig ihre Reformfortschritte veröffentlichen, um Transparenz für Investoren und Entscheidungsträger zu gewährleisten.Die Reform des Insolvenzrechts ist ein klassisches Binnenmarkt-Projekt, von dem europäische Unternehmer profitieren werden, und das zudem Investoren höhere Sicherheit geben und das gesamte Finanzsystem stärken wird. Es ist eine seit Langem überfällige Reform, jedoch eine, die bisher als langsam, komplex und als alleinige Domäne der Justizministerien angesehen wurde. Dies ist im Begriff sich zu ändern. Die von den widersprüchlichen und gemächlichen Insolvenzgesetzgebungen Europas verursachte Trägheit wurde als erhebliches Problem für die Bankenunion und als großes Hindernis für eine erfolgreiche Kapitalmarktunion erkannt. Daher rückt das Insolvenzrecht jetzt auf der politischen Agenda nach oben und – was ganz entscheidend ist – die Finanzministerien beginnen, die Debatte anzuführen. Start zu BeratungenDie Europäische Kommission wird in Kürze über ihre Initiative zur Insolvenzrechtsreform beraten, die von der EU-Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, Vera Jourova, und Lord Hill vorangetrieben wird. Europa hat jetzt die Chance, einen großen Schritt vorwärts zu machen, daher kann die Kommission bei der Durchsetzung dieser unerlässlichen Reform auf die volle Unterstützung der Finanzmarktteilnehmer zählen.—-Paul McGhee, Direktor für Strategie von AFME-Association for Financial Markets in Europe