David Nothacker, Sennder

„Nicht jeder Lkw-Fahrer hat ein Smartphone“

Die digitale Spedition Sennder ist das bislang letzte Start-up aus Berlin, dem Investoren eine Bewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar zugemessen haben. Erst im Januar hat die 2015 gegründete Firma 160 Mill. Dollar eingesammelt. Bis 2025 will Sennder einen Umsatz von 2 Mrd. Euro erzielen.

„Nicht jeder Lkw-Fahrer hat ein Smartphone“

Stefan Paravicini.

Herr Nothacker, als Sennder 2015 an den Start gegangen ist, bestand die erste digital vermittelte Fracht aus Bier und Brause. Setzen Ihre Kunden auch bei zeitkritischeren Transporten auf Sie?

Ja. Wir bedienen heute ein sehr breites Kundenportfolio und haben unter anderem auch Kunden aus der Automobilindustrie. Hier sind wir heute Teil von Just-in-Time-Lieferketten.

Wie sieht es aktuell mit dem Transport von Impfstoffen in der Corona-Pandemie aus?

Das ist ein bisschen was anderes und erfordert ganz besondere Voraussetzungen, darüber hinaus sind die Mengen sehr gering und müssen meist gekühlt werden. Bis minus 20 Grad können wir problemlos transportieren. Das reicht für den Impfstoff von Moderna. In unserem Joint Venture mit der italienischen Post bereiten wir uns auf den Transport von Impfstoffen vor. In Kooperation mit Poste Italiane haben wir während der Pandemie fast alle italienischen Krankenhäuser mit Atemschutzmasken beliefert. Das ist nicht ganz so zeitkritisch wie Impfstoffe, in einer Pandemie aber auch sehr wichtig.

Sennder konzentriert sich auf Vollladungen für Lastkraftwagen. Welche anderen Segmente gibt es in der Frachtlogistik?

Wir sehen in der Logistik drei große Segmente, nämlich Seefracht, Luftfracht und alles was sich auf dem Land bewegt. Im größten Segment, dem Straßengüterverkehrsmarkt, gibt es verschiedene Untersegmente: Pakete, Paletten, Teilladungen und eben Komplettladungen – Full Truck Loads (FTL).

Reicht das FTL-Geschäft, um bis 2025 Ihr erklärtes Ziel von 2 Mrd. Euro Umsatz zu erreichen?

Ja, dies bleibt im Fokus. Wir schauen uns natürlich auch andere Segmente an. Mit den Übernahmen von Everoad und dem europäischen Frachtgeschäft von Uber Freight Europe im vergangenen Jahr haben wir Expertise mit Teilladungen gewonnen. Aber der FTL-Markt macht in Europa mit 130 Mrd. Euro ein Drittel des kompletten Straßenfrachtgeschäfts aus. Wir haben gesehen, dass wir am erfolgreichsten sind, wenn wir uns klar auf ein Segment fokussieren und im FTL-Markt gibt es genügend Platz, um fokussiert zu wachsen.

Wer Komplettladungen kann, für den dürften Teilladungen aber kein Problem sein, oder?

Die Komplexität ist höher, und um das sehr gut zu machen, muss man sehr viele Technologie-Ressourcen investieren. Die Idee von Teilladungen ist aber eigentlich viel spannender. Man fährt zum Beispiel von Berlin nach München, hat nur den halben Lkw geladen – da kann man nach Berlin noch was aufsammeln und vor München wieder abgeben.

Aber?

Aber das funktioniert leider nicht immer so. Denn ein Lkw darf pro Tag nur acht Stunden fahren, Lade- und Entladezeiten gelten als Fahrtzeiten und bei jedem Stopp, den man macht, muss man im Durchschnitt mit mindestens einer Stunde rechnen. Manchmal dauert es ein bisschen länger, manchmal ein bisschen kürzer. Deshalb werden Teilladungen unterschiedlicher Kunden oft zentral konsolidiert auf einem Lkw, der dann zu einem Punkt fährt, wo die Teilladungen lokal verteilt werden auf kleinere Lkw. Das ist ein anderes Problem und auch eine andere Komplexität. Deshalb konzentrieren wir uns erst einmal auf den deutlich größeren FTL-Markt.

Sennder hat gerade eine Kooperation mit dem Berliner Logistikunternehmen Zeitfracht angekündigt. Worum geht es dabei?

Wir wissen, dass wir immer noch weniger als 1% vom europäischen Road-Freight-Markt bedienen werden, wenn wir bis 2025 unser Ziel von 2 Mrd. Euro Umsatz erreicht haben. Wir haben uns deshalb gefragt, wie wir mehr Frachtvolumen und mehr Daten bekommen, mit denen wir unser Produkt optimieren können. Dazu stellen wir unsere Software jetzt Partnern, Kunden und Carriern als Service zur Verfügung, die damit ihre Prozesse komplett digital abbilden und optimieren können. Zeitfracht ist dabei unser erster Kunde, der die Lizenz für unsere digitale Plattform SennOS erworben hat. Uber Freight hat vor wenigen Monaten in den USA übrigens genau den gleichen Schritt gemacht.

Wie sieht das Geschäftsmodell mit Software as a Service aus?

Wir bieten unsere Plattform als White-Label-Lösung an. Zeitfracht bekommt eine eigene Instanz mit einem eigenen Branding, „powered by Sennder“. Sennder bekommt pro Transaktion einen gewissen Service-Betrag und stellt dabei sicher, dass Zeitfracht ihr Geschäft komplett digital abbilden können. Das umfasst unter anderem GPS-Tracking. Immer wichtiger wird aber auch das digitale Order-Management, die Optimierung der Fahrplangestaltung und des Pricing. Alle Funktionen, die wir intern nutzen, stehen nun auch Zeitfracht zur Verfügung.

Wer hat in dieser Kooperation die Datenhoheit? Liegen die GPS-Da­ten auf dem Server von Sennder oder bei Zeitfracht?

Die Hoheit über die Daten liegt beim Kunden. Aber wenn Zeitfracht zum Beispiel keine Transportunternehmer findet, können sie auf unser Netzwerk zugreifen. Dann erhalten wir Daten aus dem GPS-Tracking, die wir auch anonymisiert zur Optimierung unseres Angebots nutzen können. Die Daten von Zeitfracht liegen in einer eigenen Cloud, auf die wir keinen Zugriff haben. Das ist das gleiche Prinzip wie bei anderen Anbietern von Software as a Service (SaaS).

Welchen Nutzen haben anonymisierte Daten für die Optimierung Ihres Kerngeschäfts?

In Amerika gibt es Datenanbieter, die Transparenz im Frachtmarkt schaffen. Da weiß man sehr genau, was der Tagespreis für bestimmte Routen ist. In Europa gibt es das nicht und deshalb ist es schwierig, Preise zu modellieren. Durch strategische Kooperationen können wir Daten noch gezielter und präziser auswerten. Im SaaS-Modell wird das noch einmal spannender, weil wir das für kleine Frachtführer bis 50 Lkw kostenlos anbieten. Wir stellen unsere Software kostenfrei zur Verfügung und erhalten im Gegenzug anonymisierte Daten, um Güterströme besser modellieren zu können. Damit können wir etwa Spot-Preise auf unserer Plattform genauestens definieren.

Beim Transport von Gütern entstehen neben Daten auch Emissionen. Spielt die Nachfrage nach emissionsarmen Transporten für Sennder eine Rolle?

Ja, grüne Transporte sind endlich ein Thema. Immerhin machen LKW 6% der europäischen CO2-Emissionen aus und lediglich 30% aller Lkw-Fahrten sind im beladenen Zustand. Wir haben das schon vor ein paar Jahren versucht, ohne dass es irgendjemand interessiert hätte. Viele Unternehmen haben damals angekündigt, welche Emissionseinsparungen erreicht werden sollen. Für die Einkäufer von Transportdienstleistungen gab es aber kein Budget. Jetzt sehen wir zum ersten Mal, dass Budgets vorhanden sind. Mit einem Kunden wie AB Inbev machen wir das ganz groß.

Wie ist Sennder eigentlich durch die Pandemie gesteuert?

Auf der Business-Seite lief es gut, weil wir digital unterwegs sind. Andere Speditionen waren vor Corona nicht unbedingt digital aufgestellt. Wir hatten auch das Glück, durch die Pandemie die Übernahmen von Everoad und Uber Freight Europe durchführen zu können. Aber es war und ist eine harte Zeit, für unsere Fahrer wie für unsere Mitarbeiter.

Den Trend zur Digitalisierung hat sich während der Pandemie also auch in der Logistik verstärkt?

Absolut. Auch viele, die sich bisher gewehrt haben, digitaler zu werden, sind jetzt bereit dazu. Der Brexit hat da ebenfalls geholfen, weil man die zusätzlichen Anforderungen digital besser abbilden kann. Die Adoption von Technologie bleibt aber unsere größte Herausforderung.

Inwiefern?

Unsere Ausgangsthese lautete, wir machen eine App, können jeden Lkw tracken und haben das Problem auf dieser Seite gelöst. Nicht jeder Lkw-Fah­rer hat aber ein Dienst-Smartphone. Also haben wir eigene Handys mit unserer App und einer SIM-Kar­te verschickt. Das ist aber problematisch, wenn es keine Internetverbindung gibt oder die Batterie leer ist. Mittlerweile integrieren wir uns mit den Telematik-Boxen der Lkw und beziehen GPS hierüber. Aber das zeigt, dass Digitalisierung in diesem Markt kein Selbstläufer ist.

Sie haben die Übernahmen von Everoad und Uber Freight Europe angesprochen, 2019 hatte Sennder bereits Innroute akquiriert. Ist die Einkaufstour abgeschlossen?

Wir planen weitere Übernahmen, aber nicht von digitalen Speditionen, wie wir es bisher gemacht haben, sondern von kleinen, traditionellen Speditionen mit 20 bis 80 Mitarbeitern. Das sind Unternehmen, die sehr analog, aber profitabel unterwegs sind und uns helfen sollen, entweder in neue Märkte zu expandieren oder unser Netzwerk zu optimieren. In den Niederlanden sind Zukäufe nicht ausgeschlossen, um das Netzwerk zu vergrößern und die Kombination von unterschiedlichen Fahrten weiter digital zu optimieren.

Allein in Berlin gibt es gleich mehrere digitale Speditionen. Steht der Branche noch eine Konsolidierungswelle bevor?

Wir haben den Markt schon stark konsolidiert. Mit Everoad und Uber Freight Europe haben wir die zwei prominentesten Konkurrenten ge­kauft und sind deutlich größer als der nächstgrößte Rivale in Europa. Das ist aber auch kein Markt, der konsolidiert werden muss. Etablierte Spieler wie Kühne + Nagel, DB Schenker, DSV haben gemeinsam einen Marktanteil von weniger als 6% am europäischen Road-Freight-Geschäft. Das ist ein fragmentierter Markt und kein „Winner takes all“-Szenario – es gibt aber vielleicht ein „Winner takes most“ im Digitalgeschäft.

Und darum hat sich Sennder die Konkurrenten geschnappt?

Wir konkurrieren vor allem um Kapital und Finanzierung. Mit den beiden Übernahmen haben wir gezeigt, dass wir deutlich weiter sind als der Wettbewerb. Das minimiert das Risiko, wie uns vor allem Investoren bestätigen, die sich mit dem amerikanischen Markt beschäftigen, wo neben Uber Freight noch ein halbes Dutzend Firmen den Anspruch haben, die Nummer 1 zu werden.

Droht Ihnen in Europa mittelfristig Konkurrenz aus China?

Wir gehen davon aus, dass es in der Luftfracht globale Champions geben wird. Im Road-Freight-Geschäft rechnen wir mit kontinentalen Champions. Das zeigt auch das Beispiel von Uber Freight, die mit amerikanischer Technologie nach Europa gekommen ist. Das hat nicht funktioniert, was uns erst die Möglichkeit zur Übernahme eröffnet hat.

Warum ist der Markteinstieg für Neuankömmlinge so schwierig?

In den USA gibt es viele Owner-Operators, die mit ihrem eigenen Lkw und ihrem Handy den nächsten Auftrag suchen. In Europa, speziell in Deutschland und Osteuropa, herrschen kleine Unternehmen mit fünf bis zehn Lkw vor. Der Fahrer ist angestellt und der Disponent im Büro entscheidet darüber, welche Fracht er annimmt. Uber Freight Europe hatte bis vor einem Jahr nur eine App im europäischen Markt. Ein Disponent konnte einen Auftrag nur auf dem Handy annehmen. Das ist nur ein Beispiel für die regionalen Herausforderungen. Wir konzentrieren uns deshalb erst einmal auf Europa­.

Sennder hat gerade 160 Mill. Dollar bei Investoren eingespielt. Was machen Sie mit den Mitteln?

Wir wollen unser 200 Köpfe starkes Technologieteam in den nächsten 18 Monaten verdoppeln. Wenn wir uns weiterhin mit Konkurrenten wie DB Schenker, Kühne+Nagel oder DSV vergleichen, wird die Technologie wichtiger sein als die Frage, ob der Umsatz ein bisschen kleiner oder ein bisschen größer ist. Hier wollen wir uns weiter absetzen.

Spielen autonome Trucks für die Zukunft von Sennder eine Rolle?

Autonome Lkw sind ein Grund, warum ich mich für Logistik begeistere. Auf unserer Roadmap für die nächsten zwei Jahr spielen autonome Trucks noch keine Rolle. Aber autonome Lkw werden kommen und die Industrie komplett verändern.

Wann?

Wir könnten autonome Trucks schon in den nächsten fünf bis zehn Jahren sehen. Denn zum einen ist schon heute ein Mangel an Lkw-Fahrern abzusehen. Zum anderen ist auch die Technologie schon so weit, dass man auf der Autobahn schon relativ sicher fahren könnte. Die letzte Meile, von der Autobahn zum Lager und zurück, wird wahrscheinlich noch zwanzig bis dreißig Jahre von Fahrern durchgeführt, die dann endlich regelmäßig zu Hause übernachten können.

Langfristig bedeutet das für die Frächter aber nichts Gutes, oder?

Heute gehören in Europa 70% aller Lkw zu Unternehmen, die weniger als zehn Lkw fahren. Solche Unternehmen und Lkw-Hersteller werden ihr Geschäftsmodell komplett neu erfinden müssen, wenn autonomes Fahren auf der Straße implementiert wird. Denn heute verkaufen sie 70 bis 80% ihrer Fahrzeuge an Unternehmen mit weniger als fünfzig Lkw. Darauf haben auch große Konzerne heute noch keine Antwort.

Was heißt das für Sennder?

Wir bauen die Technologie, um Lkw optimal einzusetzen – egal ob autonom oder nicht –, und bauen die Kundenbeziehungen auf, um diese Lkw zu füllen – autonom oder nicht. Wir streben auch ohne autonome Lkw an, bis 2025 profitabel zu sein. Unsere Investoren haben wir aber auch damit begeistert, dass wir langfristig Teil der Lösung in einem Markt sein werden, der vielleicht schon bald keine Wahl mehr hat, als Technologiekompetenz und Kundenbeziehungen einer digitalen Spedition zu kaufen, um sich neu aufzustellen.

Kommt aus diesem Markt der Investor, der in der jüngsten Runde neu an Bord gegangen ist?

Nein. Aber Scania hat als bestehender strategischer Investor investiert und auch die italienische Post und Siemens sind mit dabei. Wir sind aber weiterhin an strategischen Partnerschaften interessiert.

Das Interview führte

BZ+
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