Ölindustrie im Tiefenrausch

Aktien im Jahresvergleich die größten Underperformer - Konjunktureinbruch und unsichere Nachfrageentwicklung belasten Ölpreis - Neue Dividendenpolitik

Ölindustrie im Tiefenrausch

Die Aktien von Ölproduzenten und Ausrüstern haben sich im Jahresvergleich schlechter entwickelt als jede andere Branche. Schon 2019 gab es einen Angebotsüberhang; dieses Jahr bleibt die Nachfrage wegen der Folgen der Corona-Pandemie weit hinter den Erwartungen zurück. Auch die Perspektiven sind wegen der Trends zu erneuerbaren Energien, Elektromobilität und zu mehr Klimaschutz für die Verarbeiter fossiler Brennstoffe düster.Von Martin Dunzendorfer, FrankfurtÖlaktien haben sich 2020 bislang desaströs entwickelt – sowohl absolut betrachtet als auch im Verhältnis zum Gesamtmarkt. Zu Beginn des Jahres waren BP und Royal Dutch Shell die Konzerne mit der höchsten Marktkapitalisierung im FTSE 100, dem Leitindex der Londoner Börse. Heute sind die beiden Unternehmen weniger als halb so schwer und wurden längst von den Pharmariesen AstraZeneca und GlaxoSmithKline an der Spitze der Bewertungsliste abgelöst. Im S&P 500 ganz weit untenIn den USA befinden sich unter den 23 größten Verlierern im S&P 500 auf Jahressicht nicht weniger als 14 Ölproduzenten, Ausrüster und Zulieferer. Schlusslicht ist Occidental Petroleum, deren Aktie in den vergangenen zwölf Monaten 76 % ihres Wertes eingebüßt hat. Die 13 anderen Papiere verloren jeweils mindestens die Hälfte ihrer Kapitalisierung. Zu ihnen gehört ExxonMobil (-52 %). Der Konzern, der nach 92 Jahren im September seinen Platz im Dow Jones räumen musste, steht damit noch schlechter da als Chevron; der letzte Ölwert im bekanntesten Aktienindex der Welt büßte im Jahresvergleich nur 37 % ein und damit etwa so viel wie die französische Total (- 34 %). Am härtesten unter den fünf “Supermajors” traf es aber Royal Dutch Shell und BP mit Verlusten von 58 % und 55 %. Die französische Total verlor 40 % an Wert. Nach den Ursachen der miserablen Performance muss nicht lange gefahndet werden. An erster Stelle steht der weltweite Konjunktureinbruch, der eine Folge der Corona-Pandemie und der Maßnahmen ist, die getroffen wurden, um die Ausbreitung des Covid-19-Virus einzudämmen.Schätzungen zufolge wird die Weltwirtschaft dieses Jahr um 4 bis 5 % schrumpfen. Dadurch sinkt auch die Ölnachfrage. Da dies frühzeitig erkennbar war, kam der Ölpreis schon im ersten Quartal ins Rutschen: Von Mitte Februar bis Mitte April brach der Preis für ein Barrel Brent von rund 60 auf knapp 18 Dollar ein; ein Minus von 70 %. Zwar erholte sich die Notierung bis August auf gut 45 Dollar, doch zunehmend negative Meldungen über den Verlauf der Epidemie und die Angst vor neuen Lockdowns oder zumindest starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens drückten den Preis jüngst sogar unter 40 Dollar.Dieses Niveau reicht zwar, um den Dickschiffen der Branche Gewinne zu bescheren – Sondereffekte wie Abschreibungen auf Vermögen außen vor gelassen -, doch für einen großen Teil der Förderunternehmen und Ausrüster wird es dann knapp.Zumal auf der Angebotsseite weiteres Ungemach droht. Libyen scheint davor zu stehen, die Ölproduktion anzukurbeln. Das würde weiter Druck auf die Ölpreise ausüben, zumal einige Mitglieder der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) die geltende Vereinbarung, die eine Begrenzung der Fördermengen vorsieht, lieber heute als morgen aufheben möchten. Wie stets in diesem von diametralen Eigeninteressen der Mitglieder gekennzeichneten Kartell könnten einzelne Staaten versucht sein, auszuscheren und Libyen nachzueifern; sprich: die Produktion zu erhöhen. Allerdings hatte der nordafrikanische Staat schön öfter eine Förderanhebung angekündigt, ohne dass es dazu kam. Negativer Langfristtrend Beunruhigender als der Nachfragerückgang infolge der Coronakrise und die kurz- bis mittelfristige Preisentwicklung ist aus Sicht vieler Investoren der um Sonderfaktoren bereinigte, abwärts gerichtete langfristige Trend. Schon 2019 war kein gutes Jahr für die Ölindustrie, weil die fossilen Brennstoffe im Jahresvergleich spürbar billiger geworden waren. Einerseits war die Nachfrage erheblich unter früheren Schätzungen geblieben, andererseits war auch das Angebot höher ausgefallen als erwartet. Tatsächlich wurde im vergangenen Jahr auf der Welt mehr Öl produziert als verbraucht. Das liegt auch daran, dass in vielen Ländern verstärkt erneuerbare Energie aus Wind-, Sonnen- oder Wasserkraft gewonnen wird. Von der Tendenz zu Elektrofahrzeugen und den globalen Bemühungen, den Klimawandel einzudämmen, ganz zu schweigen. Diesen Entwicklungen passen sich auch die Supermajors an – mal mehr, mal weniger.Im September veröffentlichte BP den “Energie-Ausblick 2020”. Darin heißt es: “Die Struktur des Energiebedarfs wird sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit ändern: Die abnehmende Rolle fossiler Brennstoffe wird durch einen zunehmenden Anteil erneuerbarer Energien und eine wachsende Rolle für Elektrizität ausgeglichen.” Folgerichtig ist BP dabei, ihr Portfolio zu diversifizieren und die alternativen Energieprodukte, einschließlich erneuerbarer Kraftstoffe und Strom, auszubauen. Gemäß CEO Bernard Looney soll BP zu einem noch stärker integrierten Energieunternehmen werden. Während dieses Jahrzehnts plant das Management, die Öl- und Gasproduktion des Konzerns um 40 % zu senken. Stattdessen sollen mehr Ressourcen in die Stromerzeugung und saubere Energie gesteckt werden.Auch das globale Gasangebot übersteigt derzeit die Nachfrage bei Weitem. Besonders stark trifft es das Flüssigerdgas, kurz LNG (Liquefied Natural Gas). Experten erwarten den großen Nachfrageboom für LNG aber erst in drei Jahren. Dann soll die Nachfrage das Angebot übersteigen. Deswegen investierte “Big Oil” trotz mauer Ergebnisse bis zu Beginn der Coronakrise kräftig in den Ausbau des LNG-Geschäfts. VerdrängungswettbewerbWegen des Überangebotes entwickelten sich Öl- und Gaswerte bereits vor der Coronakrise schlechter als branchenübergreifende Benchmark-Indizes. Auffallend ist aktuell die relative Schwäche zum Ölpreis (siehe Chart). Dies spricht dafür, dass Öl und Ölaktien endgültig der Old Economy zugerechnet werden, für die es kein Wachstum mehr gibt. Stattdessen stände der Sektor vor einem Verdrängungswettbewerb. Dies betrifft die zweite und dritte Reihe der Förderunternehmen und Zulieferer noch weit stärker als die fünf Supermajors und die vier weltweit dominierenden Ölfeldausrüster, die allesamt ihren Sitz in den USA haben. Allerdings war die Jahresperformance von Schlumberger (-51 %), Halliburton (-36 %), Baker Hughes (-43 %) und National Oilwell Varco (-59 %) im Schnitt nicht besser als die der großen integrierten Ölkonzerne.Der Grund für die Underperformance kleinerer Ausrüster liegt auf der Hand: Wenn der Ölpreis seitwärts oder abwärts tendiert bzw. die Versorgungslage mit fossilen Brennstoffen mit Blick auf die nächsten Jahre üppig oder zumindest ausreichend erscheint, wird nicht in neue Projekte investiert – also werden auch keine Aufträge für Bohrgestänge, Hochdruckpumpen oder Pipelines vergeben. Selbst Ersatzinvestitionen werden zusammengestrichen bzw. unterbleiben – etwa weil ältere Ölfelder, die schon weitgehend ausgebeutet und zu aktuellen Preisen kaum noch wirtschaftlich zu betreiben sind, aufgegeben werden.Der Rückgang der Aufträge hat die Ergebnisse der Ölfeldausrüster schon seit über zwei Jahren stark belastet, doch nun wird die Lage – da sich die Krise der Branche hinzieht und keine Aussicht auf eine starke Gegenbewegung am Öl- und Gasmarkt besteht – für viele der Zulieferer, die unter hohen Schulden ächzen und deren Cash-flow schwächelt, existenzgefährdend. Kapitalerhöhungen sind jederzeit möglich, ebenso die Aufgabe der Unabhängigkeit – sprich: eine Fusion oder Übernahme mit einem/durch einen Wettbewerber. Allein, wer geht in dieser schwierigen Zeit das Risiko ein, eine Ölfirma zu kaufen, noch dazu eine, die auf brüchigem Fundament steht? Assetmanager auf DistanzSo gut wie nichts deutet derzeit darauf hin, dass der Ölpreis deutlich steigen wird. Doch trotz des Umbaus der Portfolios durch die Supermajors sind es immer noch höhere Ölpreise, die bei ihnen zur Steigerung von Umsatz, Gewinn und Cash-flow führen und damit auch zu einer Höherbewertung der Aktien. Dass Assetmanager zurzeit um die Branche einen großen Bogen machen, überrascht nicht: Laut der Investmentbank Evercore ISI befinden sich die Beteiligungen an Öl- und Gasunternehmen durch aktive Vermögensverwalter auf einem 15-Jahres-Tief.Ist es vielleicht gerade deswegen – wegen der vermeintlich rein negativen Perspektiven – der richtige Zeitpunkt für eine konträre Wette auf die Branchenriesen? Die größte Herausforderung für Anleger besteht darin, die Richtung der Ölmärkte richtig vorauszusagen. Im gegenwärtigen Umfeld ist hier aber selbst eine Expertenmeinung nicht erfolgversprechender als das Ergebnis eines Münzwurfs.Zudem ist eine wichtige Stütze für die Aktienkurse der großen Ölkonzerne 2020 weggefallen: die stabilen Dividenden. Die Supermajors und großen Ölfeldausrüster waren über Jahrzehnte für ihre verlässlichen Ausschüttungen bekannt, die so hoch waren, dass die Dividendenrenditen in der Regel deutlich über den Renditen z. B. deutscher oder amerikanischer Staatsanleihen lagen. Damit ist es nun vorbei. Royal Dutch Shell senkte die Quartalsdividende zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, und das gleich um zwei Drittel. Schlumberger, der weltgrößte Ölfelddienstleister, kündigte an, dass erstmals seit 40 Jahren die Gesamtjahresdividende sinken wird. Andere Unternehmen strichen die Ausschüttung komplett. ExxonMobil und Chevron gehören zu den wenigen Energieriesen, die bisher eine Kürzung ihrer Dividenden vermieden haben. Aber auch das könnte sich ändern, wenn es zu einem weiteren Nachfragerückgang und/oder zu einer Produktionserhöhung kommt.Mit dem Bruch langer Dividendentraditionen haben die Manager indirekt eingeräumt, dass es mit der Gewissheit langfristig positiver Ergebnisse vorbei ist. Für Anleger heißt das, bis auf Weiteres besser an der Seitenlinie zu verweilen.