IM BLICKFELD

Österreich probiert es trotz Pandemie mit Pistengaudi

Von Stefan Paravicini, Berlin Börsen-Zeitung, 5.1.2021 Werbung kann eine Mordsgaudi sein: "Flatten the curve", heißt es in einem Filmchen des österreichischen Skigebietes Wagrain-Kleinarl, mit dem das Tourismusbüro der Salzburger Gemeinde in den...

Österreich probiert es trotz Pandemie mit Pistengaudi

Von Stefan Paravicini, BerlinWerbung kann eine Mordsgaudi sein: “Flatten the curve”, heißt es in einem Filmchen des österreichischen Skigebietes Wagrain-Kleinarl, mit dem das Tourismusbüro der Salzburger Gemeinde in den sozialen Medien noch vor wenigen Tagen für eine Skifreizeit in der Region Pongau warb. Zu sehen sind in dem Clip Ski- und Snowboardartisten, die Kurven in den Steilhang und in den blauen Himmel zaubern. “Macht bei uns richtig Spaß”, heißt es in dem Videoclip denn auch augenzwinkernd mit Blick auf den zweckentfremdeten Pandemie-Slogan. Flugkurve statt Infektionskurve. “Weil Schifoan is des Leiwaundste, wos ma sich nur vurstelln kann”, weiß man nicht erst seit dem Hit des österreichischen Liedermachers Wolfgang Ambros.Angesichts von landesweit immer noch rund 170 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen – in Salzburg lag die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz zuletzt mehr als doppelt so hoch – kommen österreichischer Schlager und Humor aus der Skiwelt Amadé nicht überall gut an. Die Gemeinde Wagrain-Kleinarl hat ihren Clip jedenfalls wieder aus dem Netz entfernt. Die österreichischen Skilifte bleiben ungeachtet des negativen internationalen Echos auf den Start der Wintersaison an Weihnachten aber geöffnet. Daran wird auch die zum Wochenauftakt von der Bundesregierung in Wien verkündete Verlängerung des mittlerweile dritten Lockdowns seit Ausbruch der Pandemie bis zum 24. Januar in der Alpenrepublik nichts ändern. “Der österreichische Lockdown umfasst Schulen und Geschäfte, aber keine Skihänge”, schrieb die “New York Times” mit ungläubigem Staunen zum Jahreswechsel und berichtete von langen Schlangen am Skilift sowie dem fast surrealen Kontrast zu den über die Feiertage weitgehend menschenleeren Straßen in Wien.Geschlossene Liftanlagen sind noch kein Garant für eine pandemie-konforme Freizeitgestaltung, wie man spätestens seit dem Wochenende auch am Feldberg und in den umliegenden Taunusgemeinden sowie in anderen deutschen Schneegebieten weiß. Die Infektionsdynamik mit der vorgeschriebenen FFP2-Maske am Skilift in Österreich dürfte zwischen den Jahren im Vergleich mit illegalen Ravepartys in Frankreich und Spanien auch überschaubar gewesen sein. Die Entscheidung der türkis-grünen Regierung in Wien, als einziges Land in der Europäischen Union (EU) trotz Pandemie mit der Pistengaudi zu starten, bleibt aber sowohl in der Alpenrepublik als auch bei den europäischen Nachbarn umstritten.Das liegt nicht zuletzt an der verheerenden Corona-Bilanz des Tiroler Skiorts Ischgl, der im vergangenen Winter nach Einschätzung von Experten seinem Ruf als “Mallorca der Alpen” auf unrühmliche Art gerecht wurde und dem Sars-CoV-2-Virus von der Schneebar den Weg in alle Ecken Europas spurte. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) kam in einer Modellrechnung Ende Mai zu dem Schluss, dass die Entfernung von Ischgl ein relevanter Faktor für die Vorhersage von Infektionsfällen in deutschen Landkreisen ist und die Bundesrepublik insgesamt nur die Hälfte der aufgetretenen Infektionsfälle verzeichnet hätte, wenn alle Landkreise so weit von Ischgl entfernt wären wie der Landkreis Vorpommern-Rügen. Kein Wunder also, dass aus Berlin und vor allem aus München vor dem Start der Wintersaison in Österreich Warnungen vor einem zweiten Ischgl laut wurden.”Du hast automatisch Abstand, wenn du Ski an den Füßen hast”, zerstreute Peter Schröcksnadel, der seit 30 Jahren den Österreichischen Skiverband führt, selbst an mehreren Skigebieten, Bergbahnen sowie rund zwei Dutzend Firmen rund um den Skizirkus beteiligt ist und damit als Archetyp der Skipatriarchen, Pisten-Napoleons und Liftkaiser in Österreich gilt, alle Sorgen. Tourismusministerin Elisabeth Köstinger (ÖVP) folgte mit deutlich weniger Abstand: “Ich habe überhaupt keine Angst, dort infiziert zu werden”, sagte sie dem “Spiegel” zum Pistenvergnügen. Entspannung in IschglIn Ischgl ist diese Gefahr bis auf Weiteres tatsächlich gebannt. Weil das Skigebiet mit Pisten in der Schweiz verbunden ist und nach jeder Abfahrt zu den Eidgenossen – die ihre Pisten ebenfalls geöffnet haben – bei der Rückkehr eine Quarantänepflicht bestünde, soll der Start der Wintersaison frühestens in der zweiten Januarhälfte erfolgen. “Relax. If you can . . .”, lautet der Slogan des Ortes, der ebenfalls eine Mordsgaudi verspricht, derzeit aber ein bisschen zu vieldeutig wirkt.