IM INTERVIEW: PHILIPP SCHULTE-NOELLE

Ottobock hält an Mittelfristzielen fest

Der CEO des Medizintechnikunternehmens über Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Vorbereitungen auf die Börsenfähigkeit

Ottobock hält an Mittelfristzielen fest

Herr Schulte-Noelle, Ottobock hat im vorigen Jahr 100-jähriges Bestehen gefeiert. Wie geht es zum Jubiläum?Wir haben pünktlich im Jubiläumsjahr mit einem 8-prozentigen Erlösanstieg die Umsatzmilliarde geknackt. Das war ein Stück früher als erwartet – und das bei einer überproportionalen Steigerung im bereinigten Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) um gut 10 %. Wieso bereinigt?Wir befinden uns seit zwei Jahren in einer Transformation. Wir sind global unterwegs. Das geht mit Komplexität einher, die wir reduzieren müssen. Dabei geht es um die Vereinheitlichung von Geschäftsprozessen, die Transformation unserer IT und eine Vereinfachung unserer Organisation. So etwas ist immer verbunden mit Einmalkosten, die in den vergangenen Jahren in der Gewinn- und Verlustrechnung signifikant waren. Allerdings wird das künftig immer weniger der Fall sein, denn einen Großteil unserer Hausaufgaben wie die Konsolidierung unserer Produktionslandschaft oder die Optimierung unseres Einkaufs werden wir bis Ende des Jahres weitestgehend erledigt haben. Mit welchen Belastungen ist denn dieses Jahr noch zu rechnen?Es ist sicher noch ein zweistelliger Millionenbetrag. Das ist für ein Unternehmen unserer Größenordnung nicht ungewöhnlich. Ich bitte um Verständnis, dass wir nicht weiter ins Detail gehen können. Wir haben in dem Prozess wesentliche Hebel bereits identifiziert und in Angriff genommen. Unser neues Werk in Bulgarien ist bereits auf dem Weg und startet dieses Jahr mit der Fertigung. Die IT-Transformation dauert länger: Sie wird uns sicher noch ein bis zwei Jahre beschäftigen. Wie hat sich die Ebitda-Marge zuletzt entwickelt?Wir haben die Marge vergangenes Jahr um einen halben Prozentpunkt auf 19,2 % verbessert. Ziel ist es weiterhin, die Marke von 20 % im eingeschwungenen Zustand zu erreichen. Wird daraus noch in diesem Jahr etwas?Das war ursprünglich so geplant. Wegen der Coronavirus-Pandemie wird das aber nicht möglich sein. Bis Mitte März waren wir voll auf Kurs, um unsere ambitionierten Wachstumsziele nach 2019 auch in 2020 zu erreichen. Dann hat uns Corona getroffen. Mit unseren Aktivitäten in Wuhan war uns sehr früh bewusst, welche Auswirkungen dieses Virus auf unser Geschäft haben wird. Unsere Hauptklientel sind ältere Menschen mit Handicap, die oft in Alten- und Pflegeheimen betreut werden. Entsprechend haben wir unser Krisenmanagement bereits im Februar aufgebaut und navigieren bisher robust durch die Krise. Gab es in der Lieferkette Unterbrechungen oder hat sie die ganze Zeit funktioniert?Gemessen an unseren anfänglichen Erwartungen hat die Zulieferung in den vergangenen Wochen besser funktioniert. Das einzige Segment, in dem wir Probleme in der Lieferkette stärker gespürt haben, ist das Rollstuhlgeschäft. Ersatzteile und bestimmte Komponenten beziehen wir aus China, wo die Produktion zeitweise zum Stillstand kam. Aber die Verzögerungen haben das Geschäft nicht nachhaltig beeinträchtigt. Wie sieht es mit Kurzarbeit in der Belegschaft aus?Wir nutzen Kurzarbeit in Teilen und gezielt an den Standorten in Deutschland. Wir greifen auf vergleichbare Instrumente auch in anderen Ländern wie den USA zurück. Wir sprechen von eher kleinen Zahlen verglichen mit anderen Branchen. In Deutschland werden im Mai voraussichtlich 834 von 2 047 Mitarbeitern in Kurzarbeit sein. Sie sagen, Sie navigieren robust durch die Krise. Einen Liquiditätsengpass befürchten Sie für Ottobock nicht?Nein. Wir haben vor Beginn der Krise eine Kreditlinie bei Banken erhöht. Details nenne ich nicht, wir sind ein privates Unternehmen. Nur so viel: Uns begleitet seit Jahren ein Syndikat aus in- und ausländischen Banken, die unser Geschäftsmodell kennen. Die Kreditlinie ist Teil unserer Strategie, auch durch Akquisitionen zu wachsen. Das haben wir mit der Beteiligung an Cascade Anfang des Jahres unterstrichen. Im vorigen Jahr haben wir Schuldscheine erfolgreich zu niedrigen Kosten platzieren können. Wenn das von vielen erwartete Szenario eintritt, dass die Krise im zweiten Quartal ihren Höhepunkt erreichen wird, ist ein Liquiditätsengpass für uns kein Thema. Wir verfügen jedenfalls über einen Liquiditätsrahmen, mit dem wir durch diese Krise kommen werden. Gab und gibt es Überlegungen, bestimmte Aktivitäten im Zuge der Krise zu verkaufen? Das Rollstuhlgeschäft steht nach der Restrukturierung nicht zur Disposition, oder?Das Rollstuhlgeschäft ist ein integraler Bestandteil, wir haben es bis 2018 erfolgreich restrukturiert. Natürlich prüfen wir unser Portfolio, das hat aber nichts mit der aktuellen Krise zu tun, sondern mit strategischen Überlegungen. Randaktivitäten, die wir auf den Prüfstand stellen, machen nur einen sehr kleinen Teil unseres Gesamtgeschäfts aus. Das Rollstuhlgeschäft gehört auf jeden Fall nicht zu diesen Randaktivitäten. Wie läuft denn das Geschäft aktuell?Das ist je nach Land sehr unterschiedlich. In Deutschland läuft das Geschäft noch relativ gut trotz Lockdowns. In anderen Ländern wie Argentinien, Brasilien oder Belgien ist es wegen des Shutdowns praktisch komplett zum Erliegen gekommen. Hier arbeiten wir mit den Gesundheitsbehörden daran, die Versorgung bei gleichzeitigem Schutz der Patienten wieder sicherzustellen. Aber derzeit trifft uns das sehr hart. April und Mai erweisen sich hoffentlich als Tal. Wir bereiten uns darauf vor, dass wir nach einer Öffnung stärker versorgen können als sonst. Denn unsere Versorgungen müssen stattfinden: Eine Prothese muss nach einer gewissen Zeit ersetzt werden. Der Nachholeffekt ist also gesetzt. Wie lange wird es dauern, das aufzuholen?Ob das noch in diesem Jahr zu schaffen ist, müssen wir abwarten. Das hängt davon ab, ob eine zweite Infektionswelle kommt. Aber wir werden das wieder aufholen. Können Sie vor diesem Hintergrund einen Ausblick für 2020 geben?Das ist schwierig. Es hängt sehr stark davon ab, wann unsere Patientenversorgungszentren und die unserer Partner ihre Türen wieder öffnen können. Wann können wir an die Patienten, die in Pflegeheimen und Krankenhäusern betreut werden, wieder herantreten? Das lässt sich schwer abschätzen. Auch wenn es zunehmend Lockerungen gibt, ist unsere Situation speziell, weil unsere Patienten vermehrt zu den Risikogruppen gehören. Unsere Jahresziele werden wir nur erreichen können, wenn wir nach dem Sommer die zuletzt verschobenen Versorgungen nachholen können. Das wird sich erst im dritten und vierten Quartal entscheiden. China ist in der Coronakrise schon weiter. Hat die Normalisierung dort schon eingesetzt?Wir sollten vorsichtig sein, China als Beispiel für die Welt zu nehmen. Wir lernen dort jedenfalls, wie wir wieder öffnen können, indem wir etwa nicht nur unsere Mitarbeiter, sondern auch die Patienten mit Schutzausrüstung ausstatten. Wir haben digitale Prozesse, die uns helfen, bestimmte Vorgänge ohne persönlichen Kontakt abzuwickeln – etwa Verschreibungen durch digitale Unterschriften. Die Umsetzung dauert etwas, ist aber auf dem Weg. In Deutschland sind wir noch sehr nah an unserem Geschäftsplan für 2020. Die Krankenhäuser sind darauf fokussiert, Patienten besonders schnell wieder aus dem Krankenhaus zu entlassen und nehmen deshalb dringend notwendige Amputationen vor. Ähnliches sehen wir in den USA. Große Unterschiede zu der Zeit vor dem Coronavirus gibt es in diesen beiden Ländern nicht. Wo sehen Sie die größten Belastungen?Am meisten sind wir in Italien beeinträchtigt, wo die Pandemie ihr Epizentrum in Europa gefunden hat. Dort geht es nur ganz langsam wieder los. Auch in Belgien ist es schwierig. Aber die ganz wichtigen Absatzmärkte wie Deutschland oder die USA sind weniger stark betroffen. Wir sind als systemrelevanter Anbieter in den meisten Ländern auch angesichts vielfältiger Schutzmaßnahmen in der Lage, weiter zu arbeiten. Das ist eine andere Situation als in Branchen wie der Autoindustrie. Wenn wir von starker Beeinträchtigung sprechen, dann geht es nicht um 50 % Umsatzverlust weltweit, sondern um 10, 20 oder 30 % in einigen Ländern und 50 % oder mehr in sehr wenigen Märkten. Wir sind im April besser unterwegs gewesen als wir das in unserem Krisenstab einige Wochen zuvor erwartet hatten. Und in Ländern wie den USA rechnen wir mit einem sehr starken Nachholeffekt. Ihre Mittelfristziele 2022 bleiben also bestehen?Daran halten wir fest. Wir wollen etwas mehr als 1,3 Mrd. Euro Umsatz im Jahr 2022 erwirtschaften. Das können wir trotz der Coronakrise schaffen. Die Versorgungen müssen und werden kommen. Die Frage ist nur, in welchem Quartal. Erschwert die Coronakrise nicht Akquisitionen, die Sie für Ihr Wachstumsziel im Blick haben?Transaktionen planen wir nicht der Transaktion wegen. Sie müssen strategisch zu uns passen. Genauso muss die Transaktionsstruktur stimmen. Diesbezüglich verhalten wir uns sehr diszipliniert. Wichtig ist: Wir sprechen mit unseren Partnern in der Patientenversorgung, mit denen wir lange und eng verbunden sind und denen wir auch in diesen schwierigen Zeiten zur Seite stehen wollen. Wenn beide Seiten den Zeitpunkt für richtig halten, kann es zu Transaktionen kommen. Aber für solche Entscheidungen braucht es mehr Visibilität auf das Geschäft und auf die Märkte als im Augenblick. An unseren mittelfristigen Wachstumsplänen halten wir fest. Dennoch verzögern sich Ihre Vorbereitungen für einen möglichen Börsengang.Die Aussage, dass wir nach 2020 fit sein wollen für einen möglichen Börsengang, gilt weiterhin. Wir arbeiten mit Hochdruck an einer Professionalisierung unserer Verwaltungsstrukturen. Wir stellen unsere Finanzberichterstattung auf IFRS um und sind mitten im Prozess. Im Moment berichten wir nach HGB. Daher bitte ich um etwas Geduld, bis wir noch mehr Transparenz mit Blick auf unsere Zahlen bieten können. Zum Nettoergebnis kann ich sagen, dass es 2019 positiv ausgefallen ist – mehr dazu dann nach der Umstellung auf IFRS. Müssen Sie auch im Management noch nachrüsten?Wir sind in unserem Management-Team komplett. Wir haben uns mit Oliver Jakobi als erfahrenem Kollegen im Vertrieb verstärkt und seit August mit Jörg Wahlers einen neuen, erfahrenen CFO gewonnen, der auch unsere IT verantwortet. Von dieser Seite sind wir also bereit. Aber unsere Eigentümerseite hat keine Eile, sich zu verabschieden. Prof. Hans Georg Näder wird mit seinen Töchtern Georgia und Julia langfristig das Lebenswerk von vier Generationen mehrheitlich in die nächsten Jahrzehnte begleiten, stimulieren und als wichtigste Beteiligung im Familienportfolio wertorientiert weiterentwickeln. Und EQT?EQT ist ein wert- und leistungsgetriebener Partner auf Zeit – und sehr zufrieden mit dem gemeinsamen Wachstumskurs. Wir haben zudem genug Eigenkapital und es daher nicht eilig. Ich bezweifle, dass das Jahr 2021 von den Rahmenbedingungen her überhaupt ein gutes Jahr für Börsengänge wird. EQT ist erst 2017 eingestiegen. Bei den üblichen fünf Jahren Haltedauer kann ein IPO auch erst später aufs Tableau kommen. Wir arbeiten dennoch mit Hochdruck daran, möglichst bald bereit dafür zu sein. Sie sind 2019 auch dank Zukäufen um 8 % gewachsen. Wie schätzen Sie die langfristig möglichen Wachstumsraten ein?Wir erwarten, dass wir in einem eingeschwungenen Zustand zwischen 5 und 7 % organisch wachsen können. Das setzt sich zusammen aus einem prozentual zweistelligen Wachstum in den Entwicklungsländern und einer Steigerung um jährlich 3 bis 5 % in den etablierten Märkten, insbesondere in Europa und den USA. 2019 sind wir organisch um 6 % gewachsen – und das, obwohl sich große Ausschreibungen verschoben haben. Worauf setzen Sie für das Erreichen Ihrer Wachstumsziele?Wir weiten regelmäßig unser Produktportfolio aus. Ein Beispiel dafür ist unsere myoelektrische Handprothese, die ein Teil unseres Prothetik-Portfolios der oberen Extremitäten ist. 2019 haben wir die zweite Generation unserer mikroprozessor-gesteuerten Knieorthese C-Brace auf den Markt gebracht, die weltweit einzigartig ist und in zwei bedeutenden Märkten – Japan und Deutschland – bereits erstattungsfähig ist. Die Erstattungsfähigkeit ist sehr wichtig, um dynamisches Wachstum entfalten zu können. Unsere Orthese hilft Menschen, die etwa einen Schlaganfall überstanden haben oder unter Multipler Sklerose leiden, wieder gehen zu können. Das bietet uns enormes Wachstumspotenzial. Denn der Markt für Orthesen ist bedeutend größer als der für Prothetik. Welche Wachstumschancen sehen Sie noch für die kommenden Jahre?Wir sind der einzige Konzern in der Orthopädietechnik, der als Komplettanbieter auftritt. Wir beliefern und betreiben Patientenversorgungszentren, das heißt Sanitätshäuser und Orthopädie-Werkstätten. Außerhalb der USA sind wir mit etwa 180 sogenannten Patient-Care-Centern der größte Versorger für Prothetik- und Orthetik-Kunden. Dieses Netzwerk wollen wir weiter ausbauen – durch Übernahmen oder Partnerschaften. Dieser Vorwärtsstrategie, noch näher an die Patienten zu rücken, um deren Bedürfnisse besser zu verstehen und die bestmöglichen Produkte für sie zu entwickeln, gehen wir weiter nach. In den USA, Ihrem wichtigsten Auslandsmarkt, arbeiten Sie lange mit dem Versorgungspartner Hanger zusammen. Wollen Sie dort auch selbst näher an die Kunden herantreten?Wir haben uns dort Anfang des Jahres durch eine Beteiligung am Unternehmen Cascade verstärkt, das im Bereich Großhandel/E-Commerce eines der führenden ist. Damit spielen wir jetzt auf allen Vertriebskanälen. Die jahrzehntelange Partnerschaft mit Hanger, dem führenden Orthopädie-Versorger in den USA, bleibt weiterhin intakt und sehr wichtig für uns. Wir gehen deshalb behutsam vor. Allerdings ergeben sich auch dort Opportunitäten, die wir – je nach weiterer Entwicklung der Coronavirus-Pandemie -gern wahrnehmen möchten. Apropos USA: Vor rund einem Jahr wurde bekannt, dass Sie wegen der auf Eis liegenden, im September 2017 vereinbarten Übernahme von Freedom Innovations 78 Mill. Euro und damit den vollen Kaufpreis abgeschrieben haben. Die US-Behörde FTC sieht durch den Erwerb der Nummer 3 unter den Prothetik-Unternehmen in den USA den Wettbewerb beeinträchtigt. Sie haben Widerspruch eingelegt. Wie sehen Sie Ihre Erfolgsaussichten?Wir befinden uns mit der FTC weiterhin in Gesprächen. Aufgrund des laufenden Verfahrens werde ich mich dazu im Detail nicht näher äußern. Was ich sagen kann, ist, dass es nach wie vor unser Ziel ist, eine außergerichtliche Einigung herbeizuführen, die aus bilanzieller Sicht keine negativen Auswirkungen für uns hat. Welche Auswirkungen hat die Coronakrise auf die Gespräche?Die Gespräche werden durch die Pandemie sicherlich nicht beschleunigt. Was unsere Bilanz angeht: Die Einmalabschreibungen haben wir im Jahresabschluss 2018 verarbeitet. Für die Erfolgsrechnung 2019 ist Freedom Innovations insofern nicht relevant. Das Interview führten Sebastian Schmid und Carsten Steevens.