Poshness Test
Großbritannien würde einem wohl kaum als erstes Land einfallen, wenn es um Chancengleichheit und soziale Durchlässigkeit geht. Hier entscheiden nach wie vor Soft Skills wie Dialekt und Wortwahl, das Befolgen von Benimmregeln und Dresscodes. Wie eine Studie der Social Mobility and Child Poverty Commission zeigt, haben Bewerber aus einfachen Verhältnissen Probleme, einen Job bei einer Spitzenfirma in der Londoner City zu bekommen – ganz unabhängig von ihren akademischen Leistungen. Für die Untersuchung wurden ausführliche Interviews mit Mitarbeitern von 13 Kanzleien, Wirtschaftsprüfern und Finanzdienstleistern geführt, die 45 000 der besten Arbeitsplätze im Land auf sich vereinigen. Demnach gingen im vergangenen Jahr 70 % der Jobangebote an Bewerber, die an einer staatlichen Eliteschule oder einer Privatschule ausgebildet wurden. Dabei hätten nur 11 % der Bevölkerung solche Schulen besucht. Wer aus der Arbeiterklasse komme, werde “systematisch ausgeschlossen”, sagte Alan Milburn, der Vorsitzende der Kommission, ein ehemaliges Kabinettsmitglied unter Tony Blair. Die Elitefirmen unterzögen die Bewerber einem “Poshness Test”, der diejenigen ausschließe, deren Eltern nicht genug auf dem Konto haben.Es sei zwar sehr wahrscheinlich, dass man unter all den Bewerbungen von Absolventen der Universität XY einen ungeschliffenen Diamanten finde, zitiert das Blatt einen Mitarbeiter einer Personalabteilung. Aber wie viel Schlamm müsse man durchsieben, um den zu finden? Eine ganze Menge. Dafür habe man einfach nicht das nötige Budget und Personal. Ein anderer betonte die Notwendigkeit, einer Bewerberin, die er bereits eingestellt habe, die erwünschte Wortwahl und Aussprache beizubringen. Während es ihm um die Substanz gehe, achteten viele seiner Kunden und Kollegen in erster Linie auf das persönliche Auftreten und Erscheinungsbild. Einem der Befragten zufolge spielt der Dialekt mittlerweile eine größere Rolle als noch vor einigen Jahren, als Bewerber nur sehr selten abgewiesen worden seien, weil sie Cockney sprachen. Es habe lediglich manchmal geheißen, dass sie sich ein bisschen wie Gebrauchtwagenhändler anhörten. Aber mittlerweile habe sich das geändert. Er wäre überrascht, wenn er in der City solche Töne überhaupt noch zu hören bekäme. Nancy Mitfords “Noblesse Oblige” gilt heute noch genauso wie in den 1950ern. Zu den Ratschlägen gehört, dass man “napkin” statt “serviette” sagt. Auch wenn man in gehobenen Kreisen gerne so tut, als spiele das alles heute keine Rolle mehr, gibt es doch zahllose “Non-U”-Ausdrucksweisen (U steht hier für Upper Class), an denen man erkennt, wer nicht dazugehört. Ganz abgesehen von der richtigen Aussprache schwergängiger Familiennamen wie Darcy de Knayth oder Pennycuick, die zwar vom Kunden, aber von den Angehörigen der niedrigen Stände nicht immer beherrscht wird. Wer es sich leisten kann, schickt den Nachwuchs zur mehr als 250 Jahre alten Benimmschule Debrett’s nach Mayfair, wo schon 16- bis 18-Jährigen beigebracht wird, wie man erfolgreiches Networking betreibt.Wer es sich leisten kann, unbezahlte Praktika zu machen, ist bei Bewerbungen im Vorteil. Rund ein Drittel der neu eingestellten Studienbewerber haben schon einmal für ihren Arbeitgeber gearbeitet, zumeist als unbezahlte Praktikanten. Wer es sich leisten kann, durch die Welt zu reisen, erwirbt die als unverzichtbar geltende interkulturelle Kompetenz. Der Blick aus der Business Class sorgt dabei offenbar für die gewünschte Perspektive. Wer in einer Einwandererfamilie im Osten Londons aufwächst, kann da nicht mithalten, obwohl er im Zweifelsfall mehr Sprachen spricht und einen tieferen Zugang zu anderen Kulturen hat als die Jeunesse dorée aus dem Speckgürtel der britischen Metropole. Der ehemalige Tesco-Chef Terry Leahy sagte, Firmen sollten sich lieber darauf konzentrieren, die besten Mitarbeiter zu finden. “Als ich aufgewachsen bin, wurde mir beigebracht, dass man alles erreichen kann, wenn man nur hart genug dafür arbeitet, egal welche Vorteile andere Leute auch haben mögen.” Das würde ihm heute, Einstellung hin oder her, schwerer fallen. Schon weil ein Blick auf die Postleitzahl der Anschrift mehr über den Hintergrund von Bewerbern sagt als Alter, Ausbildung, Name oder Geschlecht.