GASTBEITRAG

Produktsicherheit als Aufgabe des Managements

Börsen-Zeitung, 17.7.2020 Am 7. Juli hat die Europäische Kommission ihren jüngsten Bericht über das sogenannte "Schnellwarnsystem für gefährliche Gebrauchsprodukte" (RAPEX) veröffentlicht. Grundlage für die Einrichtung eines solchen Systems ist...

Produktsicherheit als Aufgabe des Managements

Am 7. Juli hat die Europäische Kommission ihren jüngsten Bericht über das sogenannte “Schnellwarnsystem für gefährliche Gebrauchsprodukte” (RAPEX) veröffentlicht. Grundlage für die Einrichtung eines solchen Systems ist Artikel 12 der Richtlinie 2001/95/EG. Dabei besteht kein Zweifel, dass alle Verbraucher, die herstellenden Unternehmen und die Händler allergrößtes Interesse an “sicheren” Produkten haben. Man fliegt nicht gerne mit einem Flugzeug, dessen baugleicher Typ mehrfach vom Himmel gefallen ist.Die Erkenntnisse, die der Bericht vermittelt, sind erschreckend. Im Jahr 2019 informierten Behörden aus 31 Ländern, nämlich aus den EU-Mitgliedstaaten sowie aus Norwegen, Island und Liechtenstein über 2 243 Warnmeldungen zu gefährlichen Produkten. Das fängt mit mangelhaftem Spielzeug an. Es folgen fehlerhafte Kraftfahrzeuge und Elektrogeräte und reicht bis zu problematischen Kosmetika, Textilien, Gesichtsmasken und medizinischen Schutzanzügen. Die Folgen waren die Rücknahme der Produkte vom Markt, die Vernichtung von Produkten durch die Händler oder der Rückruf unsicherer Produkte. Über das Dunkelfeld ist wenig bekannt. Es gehört aber nicht viel Fantasie dazu, es sich vorzustellen. Den Leser fröstelt es bei der Lektüre.Der Bericht zeigt das Dilemma für die verunsicherten Verbraucher einerseits, aber auch für die Hersteller, die Händler und deren Management, deren verantwortungsvolle Aufgaben und das Risiko von Fehlentscheidungen andererseits. Alle Beteiligten sehen sich vor der Herausforderung zu entscheiden, ob ein Produkt sicher ist. Im Zweifel sind durch den Hersteller unsichere Produkte von dem Markt zu nehmen. Das hat aber auch für das Unternehmen dramatische Folgen. Zu entscheiden ist, wie sicher ist sicher genug. Bei falschen Entscheidungen drohen nicht nur behördliche Maßnahmen, Schadenersatzansprüche, die Abberufung von Organmitgliedern und die Kündigung ihrer Anstellungsverträge. Es drohen Hausdurchsuchungen und strafrechtliche Sanktionen, Turbulenzen im Kapitalmarkt, mediale Blutbäder und ein schwerer Reputationsverlust bei den Verbrauchern. Die höchstrichterliche Entscheidung (BGH vom 6.7.1996 – 2 Str. 549/89, BGHSt 37,106) zur strafrechtlichen Produktverantwortung der Geschäftsführer eines Unternehmens, das ein hochgiftiges Lederspray auf den Markt brachte, ist allen Beteiligten noch in eisiger Erinnerung. Hohe AnforderungenWas ist zu tun? Alle Produkte eines Unternehmens sind zu bewerten, beginnend mit der Planung über die Herstellung, den Vertrieb, den künftigen Gebrauch durch den Erwerber und die Entsorgung. In den Blick zu nehmen sind die Lieferketten, die möglichen Langzeitschäden und der gegebenenfalls gebotene Rückruf. Zu bestellen ist ein Produktsicherheitsbeauftragter und einzurichten ist ein Produktsicherheits-Managementsystem. Für viele Unternehmen ist das nicht neu. Für die anderen Unternehmen besteht dringender Handlungsbedarf.Bei der Bewertung der Sicherheit eines Unternehmens geht es um die technische Sicherheit und es geht um die möglicherweise abweichende normativ geforderte Sicherheit. Das Letztere ist ein gewerberechtliches Problem, eine Frage des Vertragsrechts, des Strafrechts, der Organhaftung, des Beweisrechts usw. Dabei zeigt sich, dass die gesetzlichen Anforderungen höchst unterschiedlich sein können. Die Antworten sind vielfach nicht klar und, schlimmer noch, gelegentlich widersprüchlich. Weshalb sind kleinteilige Spielzeuge unsicher, müssen zurückgerufen werden, weil sie von Kindern verschluckt werden können, während Kieselsteine von gleicher Größe im Garten neben dem Sandkasten liegen dürfen?Teilweise gibt es bis ins Einzelne gehende gesetzliche Anforderungen an die Sicherheit von Produkten, an Grenzwerte usw. Wenn entsprechende normative Vorgaben fehlen, verlangen Artikel 2 und Artikel 3 der EU-Richtlinie 2001/95/EG, dass “jedes Produkt, das bei normaler oder vernünftigerweise vorhersehbarer Verwendung, was auch die Gebrauchsanweisung, gegebenenfalls die Inbetriebnahme, Installation oder Wartungsanforderung mit einschließt, keine oder nur geringe, mit seiner Verwendung unvereinbaren und unter Wahrung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit und Sicherheit von Personen vertretbare Gefahren birgt”. Das wird in der Richtlinie weiter ausgeführt. Verzweifelte RechtsanwenderDer Rechtsanwender ist angesichts der vielen unbestimmten Rechtsbegriffe verzweifelt. Konkretisiert wird das inzwischen durch den Durchführungsbeschluss der EU-Kommission und den darin enthaltenen gut gestalteten Leitfaden zur Produktsicherheit und die Risikobewertung vom 8.11.2018 (EU 2019/417). Diese Leitlinien wenden sich aber in erster Linie an die mitgliedstaatlichen Behörden, die auf dem Gebiet der Produktsicherheit tätig und Teil des RAPEX-Netzes sind, und nicht an die Hersteller und Händler. Für sie bleiben Zweifel und Unsicherheit bei der Beantwortung der Frage: Wie sicher ist sicher genug. Die Unternehmen sind wahrlich nicht zu beneiden. Uwe H. Schneider, Direktor des Instituts für Kreditrecht an der Universität Mainz