IM INTERVIEW: JENS WILHELM UND INGO SPEICH, UNION INVESTMENT

"Schlechte Governance ist ein Frühindikator für Risiken"

Fondsgesellschaft erstellt erstmals Ranking über die Qualität der Unternehmensführung im Dax und erhofft sich mehr Ehrgeiz in den Konzernen

"Schlechte Governance ist ein Frühindikator für Risiken"

Fondsgesellschaften stehen wie alle institutionellen Investoren zunehmend unter Druck, ihre Eigentümerrechte wahrzunehmen und auf eine gute Unternehmensführung in den Konzernen ihres Portfolios hinzuwirken. Union Investment gehört zu den wenigen Fondsgesellschaften, deren Vertreter sich auf Hauptversammlungen regelmäßig zu Wort melden. Als Grundlage für den Dialog hat Union Investment nun erstmals ein Governance-Ranking für die Dax-Unternehmen erstellen lassen. Die Ergebnisse erläutern Jens Wilhelm, Vorstand der Union Asset Management Holding, und Ingo Speich, Senior Portfoliomanager, im Interview.- Herr Wilhelm, Herr Speich, was hat sie als Fondsgesellschaft veranlasst, ein eigenes Ranking über die Governance-Güte in Dax-Unternehmen erstellen zu lassen?Wilhelm: Das Thema ist hochaktuell, wird weiter an Bedeutung gewinnen und hat für uns Tradition. Als verantwortungsvoller Investor setzen wir uns schon lange für eine gute Governance ein. Sie entscheidet wesentlich mit über den Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen. Das Ranking möchte für die Wichtigkeit des Themas sensibilisieren und Defizite offenlegen, um sie abzustellen.Speich: Als aktiver Aktionär sind wir auch kritischer Wächter über gute Unternehmensführung. Deshalb ergreifen wir regelmäßig auf Hauptversammlungen das Wort.- Sehen Sie sich als Fondsgesellschaft denn in einer gesellschaftspolitischen Verantwortung?Wilhelm: So weit muss man gar nicht gehen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn alle ihre Rollen in dem gesetzlich vorgegebenen System von Checks and Balances erfüllen. Für institutionelle Investoren heißt das, Stimmrechte verantwortungsvoll wahrzunehmen und mit den Unternehmen in einen konstruktiv-kritischen Dialog zu treten. Dann wird der Kapitalmarkt zum Motor für gute Unternehmensführung.- Ihre Aufgabe ist es aber doch, den Wert des Portfolios zu steigern, und nicht, für eine gute Unternehmensführung zu sorgen?Wilhelm: Das spielt beides zusammen. Unternehmen mit guter Governance haben in der Regel auch eine bessere Wertentwicklung.- Dass es auch anders geht, zeigt Ihr eigenes Ranking. Dort gehören Fresenius und SAP neben Volkswagen zu den Klassenschlechtesten, beide Gesellschaften sind an der Börse aber höchst erfolgreich?Wilhelm: Schlechte Governance ist ein Frühindikator für gesteigerte Risiken in Unternehmen in der Zukunft. Oft wirken sich Defizite in der Unternehmensführung und -aufsicht schleichend über die Jahre negativ aus, und dann kann es zu spät sein. Wir integrieren Governance-Aspekte deshalb in den Investmentprozess, damit sich unsere Sektorspezialisten eine dezidierte Meinung darüber bilden müssen.Speich: Im schlimmsten Fall könnte ein Unternehmen wegen schlechter Governance auch auf eine Negativliste gesetzt werden und wäre dann für uns nicht mehr investierbar. Das gilt für die genannten Unternehmen ausdrücklich nicht: Wir sind hier investiert, sehen aber in Sachen Corporate Governance deutlichen Verbesserungsbedarf.Wilhelm: Man sollte das Thema auch stärker mit Blick auf die Aktienkultur und die gesellschaftliche Akzeptanz von Unternehmen betrachten. Wenn man immer nur Schlechtes über Unternehmen liest, wird man niemanden dazu bringen, in Aktien zu investieren. Insofern ist gute Corporate Governance eine Chance für Unternehmen, ihr Bild in der Öffentlichkeit zu verbessern.- Die DVFA hat jüngst auch eine Analyse vorgelegt. Die Stimmrechtsberater erstellen Standards und Checklisten. Ist da für Sie nichts Passendes dabei, dass Sie selbst Zeugnisse ausstellen müssen?Wilhelm: Jedes Unternehmen bewegt sich in einem umfangreichen Governance-Rahmen. Das fängt mit dem Kodex an, geht über die BVI-Wohlverhaltensrichtlinien bis zur unternehmensspezifischen Policy. Wir sind intensiv im Dialog mit Unternehmen, die Klarheit über die für uns wichtigen Governance-Punkte einfordern. Für jeden nachvollziehbar haben wir daher die für das Ranking relevanten Kriterien objektiviert. So wird transparent, wie die Bewertungen zustande kommen. Sonst bleibt der Begriff der Corporate Governance zu nebulös. Leider haben manche Unternehmen auch bei ganz einfachen Dingen ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht.Speich: Die Kriterien orientieren sich an unserer Abstimmungsrichtlinie. Das Ranking zeigt somit auch mit Blick auf die Hauptversammlung, was wir von Unternehmen erwarten.- Warum ist Union Investment so viel aktiver als manche andere Fondsgesellschaft?Wilhelm: Es hat im Jahr 2002 angefangen, als wir eine Studie über Aktienoptionsprogramme im Dax erstellt haben. Die Ergebnisse machten deutlich, dass es Handlungsbedarf gab. Das war die Initialzündung. Wir haben das Thema Corporate Governance danach systematisch aufgebaut. Jetzt kommt von allen Seiten Bewegung in das Thema – und das ist gut so. Außerdem sind wir unseren Anlegern zu Rechenschaft verpflichtet, wie wir ihr Geld anlegen.Speich: Wer soll denn die Rolle des Regulativs an den Kapitalmärkten übernehmen, wenn nicht die Investoren?- Es gibt doch Aufsichtsräte als Korrektiv?Speich: Der Aufsichtsrat ist aber Teil des Unternehmens und nicht dessen Eigentümer.- Die Besetzung des Aufsichtsrats hat in Ihrem Ranking das größte Gewicht. Was sind die neuralgischen Punkte?Wilhelm: Es geht uns um Qualifikation und Diversity im Aufsichtsrat sowie um den Nominierungsprozess, der für uns als Aktionäre teilweise intransparent ist. Oft ist unklar, nach welchen Kriterien die Aufsichtsräte besetzt werden und ob es überhaupt einen strukturierten Prozess gibt.Speich: Es gibt bislang wenige Unternehmen, die Kompetenzprofile ihrer Aufsichtsräte veröffentlichen. Allerdings reichen uns hier nicht drei Sätze, es sollte schon ins Detail gehen. Diese Forderung werden wir in der diesjährigen Hauptversammlungssaison adressieren. Besonders spannend ist es in Unternehmen, die im Transformationsprozess stehen, wo sich Geschäftsmodelle radikal ändern. Kompetenz und Erfahrung mit Themen wie Digitalisierung und Cyberkriminalität sind im Aufsichtsrat dringend nötig.- Dann müssen Aufsichtsräte in kürzeren Abständen je nach Marktdynamik wechseln?Speich: Deutsche Aufsichtsräte sind in der Regel für fünf Jahre gewählt, und danach nimmt keiner gerne freiwillig den Hut. Wenn es von den Kompetenzen in dem Gremium jedoch nicht mehr passt, müssen der Aufsichtsratsvorsitzende und das Präsidium dafür sorgen, dass diese Kompetenzen aufgefüllt werden und andere Mitglieder den Kreis verlassen. Doch diese Dynamik sieht man in der Regel leider nicht.- Wo sehen Sie bei der Besetzung von Vorständen rot?Wilhelm: Die Auswahl der Vorstände ist Sache des Aufsichtsrats. Es wäre falsch, konkrete Kandidaten aus Aktionärssicht zu empfehlen.Speich: Uns geht es im Dialog mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden um das Anforderungsprofil für die oberste Führungsriege. Und wir schauen uns die Vergütung und die Anreizstruktur an.- Wo setzen Sie Altersgrenzen in Vorstand und Aufsichtsrat?Speich: Im Aufsichtsrat bei 70 Jahren, wobei wir das großzügig auslegen: Im Alter von 69 Jahren und 364 Tagen kann die Person noch für fünf Jahre gewählt werden. In der vergangenen Hauptversammlungssaison gab es einige Fälle, die darüber lagen. In dem Alter ist derjenige dann schon sehr lange nicht mehr im operativen Geschäft. Das sehen wir kritisch, zumal dann auch keine Plätze frei werden für die Manager, die mit 60 oder 62 aus dem aktiven Berufsleben ausscheiden.- Wie alt sollte ein Vorstand maximal sein?Speich: In der Regel 65.- Wie intensiv schauen Sie auf die Vergütung?Speich: Damit befassen wir uns sehr genau. Als Investor legen wir viel Wert auf langfristige Vergütungskomponenten. Durch die gleitenden Durchschnitte über mehrere Jahre bleibt die Bezahlung dann allerdings auch in operativ schwächeren Phasen stattlich. Viele Vergütungspakete wurden in einer Zeit aufgelegt, in der es den Unternehmen sehr gut ging. Das Niveau ist also vergleichsweise hoch. Deshalb muss man nicht nur genau auf die Struktur der Fristigkeit sehen, sondern auch auf den Anstellwinkel, was die operative Geschäftsentwicklung angeht.- Es könnte also angeraten sein, dem Aufsichtsrat Eingreifmöglichkeiten zu geben, wenn Langfristvergütung und Ergebnisentwicklung auseinanderlaufen?Speich: Für den Aktionär stellt sich die grundsätzliche Frage, ob man dem Aufsichtsrat einen hohen diskretionären Spielraum bei der variablen Vergütung zubilligen soll, was dieser ex post sehr transparent darstellen muss. Oder zwängt man ihn in ein Korsett an Kriterien, was aus unserer Sicht eine Gießkannenmentalität fördert und in volatilen Geschäftsmodellen in die falsche Richtung gehen kann.- Sie selbst setzen auf verantwortungsvolle Aufsichtsräte?Speich: Wir unterstützen das Modell, das dem Aufsichtsrat mehr Spielraum gibt. Allerdings werden diskretionäre Programme in den Hauptversammlungen oft abgelehnt. Das hat man bei Deutscher Börse und Deutscher Bank gesehen.- Sie haben in diesen beiden Fällen für das Vergütungsmodell gestimmt?Speich: Wir haben das Thema mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der Deutschen Bank vor der Hauptversammlung durchgesprochen und dann dafür gestimmt. Die Mehrheit der vertretenen Aktionäre hat bei der Deutschen Bank jedoch dagegen gestimmt.- Hat die Deutsche Bank nun Ihren Transparenzanforderungen bei der jüngsten Ankündigung von Bonuskürzungen Genüge getan?Speich: Ja. Die Entscheidung ist schmerzhaft, aber notwendig. Wir müssen die finalen Zahlen abwarten, aber der Vorstand hat ja schon auf Boni verzichtet. Mit einer Blockadehaltung können Aktionäre nichts zum Besseren bewegen.- So viel Besserung lässt sich in den Vergütungsmodellen in der Breite schwer erkennen.Speich: Die Unternehmen müssen mehr Fingerspitzengefühl zeigen, weil die Vergütungen in den vergangenen Jahren stark gestiegen sind. Manager sind immer noch Angestellte, doch manche Dax-Vorstandschefs kommen inzwischen in den zweistelligen Millionenbereich. Auch die Aufsichtsratsvergütung ist gestiegen. Teilweise erhalten normale Mitglieder des Gremiums Summen im sechsstelligen Bereich. Wenn damit keine spezielle Ausschusstätigkeit verbunden ist und es nur vier bis sechs Sitzungen im Jahr gibt, ist die Tätigkeit sehr gut abgegolten.- Gibt es für Sie Grenzen in der absoluten Vergütungshöhe für Vorstände?Wilhelm: Nein. Die Diskussion über Beträge halten wir nicht für zielführend, genauso wenig wie eine Verrechtlichung über gesetzliche Vorgaben.- Eine Vorstellung werden Sie doch haben?Speich: Spätestens bei zweistelligen Millionenbeträgen schauen wir sehr genau hin.- Halten Sie ein bindendes Votum über die Vergütungshöhe für den richtigen Weg, um exzessiven Gehältern entgegenzuwirken?Speich: Auf keinen Fall. Die Verantwortung liegt beim Aufsichtsrat. Wir halten es für zielführender, Say-on-Pay an die Entlastung des Aufsichtsrats zu koppeln. Insgesamt wird über die Vergütung in der Hauptversammlung allerdings zu wenig gesprochen. Das Thema ist nur im Raum, wenn ein Votum über das Vergütungssystem auf der Tagesordnung steht, ansonsten wird es totgeschwiegen. Damit tun sich die Unternehmen selbst keinen Gefallen.- Wie beurteilen Sie nun das Ergebnis Ihres Ranking?Wilhelm: Es war eine durchschnittliche Klassenarbeit mit einem Notenschnitt von 2,7. Das entspricht der Note 3+, wie sie Heidelberg Cement und Merck erreichen. Das Mittelfeld ist dabei sehr breit, doch Anspruch und Ambitionsniveau in der Corporate Governance sollten deutlich höher liegen. Deshalb sollten die Unternehmen das Ranking auch nicht als Kritik, sondern als Ansporn verstehen: Es liegt noch Arbeit vor uns! Wir haben bei diesem wichtigen Thema noch nicht alle Hausaufgaben gemacht! Leider betrachten zu viele Unternehmen Corporate Governance immer noch als lästige Pflicht.- Allianz und Deutsche Börse sind mit der Note 2+ die Musterknaben. Was zeichnet beide in dem Ranking aus?Speich: Beide haben sehr transparente Governance-Strukturen und punkten in der Besetzung ihrer Aufsichtsräte bezüglich Erfahrung, Diversity und Kompetenz. Punktabzug gab es bei beiden, weil zum Beispiel Angaben zum Abschlussprüfer fehlen.- Welche Angaben fordern Sie über den Abschlussprüfer?Speich: Unternehmen sollten darüber informieren, wie lange der leitende Prüfer schon an Bord ist.- Schlusslichter sind Fresenius, SAP und am Ende Volkswagen. Wo hakt es hier?Speich: Schauen wir auf SAP. Wir werten hier die Ermächtigung zum Aktienrückkauf negativ. Das ist unsere allgemeine Policy für Abstimmungen, denn wir bevorzugen Bardividenden. Bei SAP gibt es zudem ein Problem mit Ämterhäufung. Der Softwarekonzern hat keine Frau im Vorstand, auch das führt zu Minuspunkten. Das Unternehmen setzt auch keine Altersgrenzen für Vorstand und Aufsichtsrat. Im Aufsichtsrat sind zudem zwei ehemalige Vorstände, und es gibt Mitglieder mit mehr als zwei Amtsperioden. Daraus ergibt sich für uns ein Unabhängigkeitsproblem. Auch im Aufsichtsrat ist die Frauenquote nicht erfüllt. Das Gremium ist zudem nicht ausreichend international besetzt – gerade für SAP erstaunlich.- Was wäre eine ausreichende Internationalität?Speich: Mindestens 20 % der Aktionärsvertreter. Beim Alter der Aufsichtsräte gibt es Abzüge, wenn mindestens ein Mitglied über 70 ist. Auch bei der Transparenz hapert es. SAP veröffentlicht keine Angaben über die Teilnahme der Aufsichtsräte an den Gremiensitzungen. Uns reicht es nicht aus, wenn nur angegeben wird, dass jemand in mindestens der Hälfte der Sitzungen gefehlt hat.- Der letzte Platz von Volkswagen überrascht nicht. Das Unternehmen ist ja auch in der öffentlichen Governance-Diskussion das schwarze Schaf.Wilhelm: Hier schlagen sich wie auch bei der Deutschen Bank die auf der Hauptversammlung gestellten Sonderprüfungsanträge gegen Vorstand und Aufsichtsrat mit insgesamt sechs Minuspunkten negativ nieder. Das ist ein Misstrauensvotum der Aktionäre und wiegt für uns schwerer als andere Defizite. Unternehmen handeln sich auch Minuspunkte ein, wenn bestimmte Informationen nicht ermittelbar sind. Wir verlangen Transparenz über elementare Dinge. Das sind vergleichsweise einfache Anforderungen.Speich: Bei VW mangelt es auch an Diversität im Aufsichtsrat, speziell mit Blick auf Internationalität. Das erstaunt, weil das Unternehmen ja stark in Auslandsmärkten aktiv ist und viel Geschäft außerhalb Europas generiert. Ein ähnliches Bild sieht man bei Continental oder BMW, auch hier fehlt die Internationalität. Das ist schwach. Diese Defizite sehen wir nicht nur in der Automobilbranche, sondern auch in den Aufsichtsräten von Deutscher Post, Lufthansa und Henkel. Hier müssen die Gremien ihre Nominierungsprozesse überdenken.—-Das Interview führte Sabine Wadewitz.