GASTBEITRAG

Selbstzufriedenheit führt zu Stillstand

Börsen-Zeitung, 23.12.2015 Eigentlich hätten wir allen Anlass, zufrieden zu sein. Die gesamtwirtschaftliche Lage Deutschlands ist durchaus erfreulich. Die wirtschaftliche Erholung, auch im Euroraum, setzte sich auch im Jahr 2015 fort. Das...

Selbstzufriedenheit führt zu Stillstand

Eigentlich hätten wir allen Anlass, zufrieden zu sein. Die gesamtwirtschaftliche Lage Deutschlands ist durchaus erfreulich. Die wirtschaftliche Erholung, auch im Euroraum, setzte sich auch im Jahr 2015 fort. Das Bruttoinlandsprodukt steigt um 1,7 %. Die Beschäftigung wächst. Auch der Gesamtexport nimmt zu, getrieben vor allem von der Nachfrage aus den Vereinigten Staaten und Europa. Zudem gibt der günstige Wechselkurs Rückenwind. Der niedrige Ölpreis wirkt wie ein Konjunkturturbo und sorgt für stabilen privaten Konsum.Also alles bestens? Ist Deutschland der Fels in der Brandung, der Stabilitätsanker in Europa, ein wirtschaftliches Schwergewicht, das vor Gesundheit nur so strotzt? Bei näherer Betrachtung trübt sich dieses Bild ein, dunkle Wolken sind am Horizont erkennbar. Aber: Da die politische Debatte seit einiger Zeit fast monothematisch geführt wird – zunächst drehte sich alles um Griechenland, dann ausschließlich um Flüchtlinge -, werden andere, wichtige Veränderungen nahezu ausgeblendet, obwohl sie ihre Wirkung entfalten. Weg in die SackgasseStichworte hierfür sind der demografische Wandel, die Digitalisierung, die Innovationskraft – und die notwendigen Rahmenbedingungen, die die Politik schaffen muss, damit Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit erhalten und stärken kann. Es mag ja durchaus verständlich sein, wenn Menschen angesichts zunehmender Unsicherheiten – Terrorgefahr, Flüchtlingsfrage, Zusammenhalt der Europäischen Union – wenig Mut für Veränderung verspüren und am liebsten beim bislang Bewährten festhalten wollen.Sorgen bereitet jedoch, wenn die Politik die derzeit gute Wirtschaftslage nicht konsequent dazu nutzt, um den Weg für künftiges Wachstum zu ebnen. Die vergangenen drei, vier Jahre waren vor allem davon geprägt, bereits Erreichtes zu sichern und verteilungspolitische “Wohltaten” zu beschließen. Es ging nicht mehr um die Frage, wie der Kuchen größer werden könnte, sondern nur noch darum, ihn in möglichst große Stücke zu teilen. Mit dem Ergebnis, dass die “Wohlfühltemperatur” im Land nun ein angenehmes Niveau erreicht hat. “So soll es sein, so kann es bleiben”, dürften viele Bürger in Anlehnung an den Song von “Ich + ich” denken. Als wirtschaftspolitisches Motto – oder gar Programm – wäre ein solcher Ansatz jedoch der direkte Weg in die Sackgasse. Begleitet von expansiver Geldpolitik, stabilen Einkommen und günstigen Spritpreisen wiegt sich Deutschland in vermeintlicher Sicherheit. Gerade jetzt müssten die Weichen für künftiges Wachstum gestellt werden. Nicht umsonst hat der Sachverständigenrat seinem aktuellen Jahresgutachten den Titel “Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt” gegeben. Kritische PunkteIn den Jahren 2005 bis 2010 wies Deutschland mit plus 4 % noch den geringsten Anstieg der Lohnstückkosten auf, verglichen mit den anderen großen europäischen Ländern Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien. Im Zeitraum 2010 bis 2014 hat sich das Blatt gewendet: Jetzt liegt Deutschland auf der Pole Position mit plus 7 %. Das birgt Risiken: Wenn in einem Land die Lohnstückkosten über einen längeren Zeitraum schneller wachsen als anderswo, dann verliert diese Volkswirtschaft mehr und mehr ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit. Spiegelbildlich dazu hat sich die Zunahme der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität in Deutschland in den vergangenen Jahren deutlich verlangsamt.Der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung ist in Deutschland zwar mit 22,6 % deutlich höher als in Italien (15,4 %), Spanien (13,2 %) oder Frankreich (11,2 %). Doch in den vergangenen zwei Jahren konnte er nicht mehr gesteigert werden, sondern ging gegenüber 2012 und 2011 sogar leicht zurück. Wir dürfen uns nicht auf dem Lorbeer ausruhen, dass die industrielle Wertschöpfung 2014 in Deutschland größer war als die von Frankreich, Italien und Spanien zusammen.Die Industriestrompreise sind ein weiterer langfristig relevanter Standortfaktor. Sie variieren aufgrund unterschiedlicher Stromsteuersätze. Hier liegt Deutschland mit Italien und Großbritannien an der Spitze – und deutlich über dem EU-28-Durchschnitt. Zum Vergleich: In den USA kostet die Kilowattstunde für Unternehmen fast die Hälfte weniger als in Europa. Folge: Energieintensive Firmen investieren eher dort. Raum für KreativitätDie Forschungs- und Entwicklungsinvestitionen in Deutschland steigen stetig. Allein die inländischen F & E-Aufwendungen der deutschen Automobilindustrie haben sich 2014 um 14 % auf knapp 20 Mrd. Euro erhöht. Das sind 40 % der Forschungsaufwendungen der gesamten deutschen Industrie. So erfreulich die Zahlen sind: Auch hier ist zu bedenken, dass der Wettbewerb um die innovativsten Köpfe schärfer wird. Schon heute stehen, gesamtwirtschaftlich betrachtet, zwei offene Ingenieursstellen einem arbeitslosen Ingenieur gegenüber. Mit dem schrittweisen Ausscheiden der Baby-Boomer-Generation in den kommenden Jahren wird sich daran nichts verbessern.Eine Stärkung der MINT-Fächer ist dringend anzuraten. Und ein offener und freier Geist an den Hochschulen, der Raum für Kreativität und Innovation bietet. Viele Menschen in Deutschland schauen bewundernd aufs Silicon Valley mit seinen zahllosen Start-ups und großen IT-Unternehmen. Etliche dieser Gründer von IT-Unternehmen haben an der Stanford University, einer der renommiertesten Hochschulen weltweit, studiert. Das Motto von Stanford ist in deutscher Sprache verfasst und findet sich auch auf dem Siegel der Uni: “Die Luft der Freiheit weht.” Als Stanford vor rund 125 Jahren gegründet wurde, haben die damaligen Pioniere bewundernd auf Deutschland und sein humanistisches Bildungsideal geschaut. Wir sollten das als Ansporn ansehen.Insbesondere der Megatrend der Digitalisierung stellt Deutschland vor neue Herausforderungen. Was muss getan werden, damit sich das Potenzial der Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) voll entfalten kann? Welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen, dass mit Hilfe von “Industrie 4.0” künftig Produktionsprozesse flexibel und individualisiert ablaufen werden, weil Roboter, Produktionsmaschinen und Bauteile via Internet direkt miteinander kommunizieren? Und was heißt das für den Industriestandort Deutschland, wenn die bisherige Gleichung “höhere Stückzahlen = höhere Skalenerträge” nicht mehr gilt, weil in der digitalen Produktionswelt viel flexibler und ohne Rüstkosten gefertigt werden kann?Bezogen auf das Automobil: Die künftige Wettbewerbsstärke eines Automobillandes wird auch davon abhängen, wie umfassend das vernetzte und automatisierte Fahren vorangetrieben wird. Die deutsche Automobilindustrie investiert hierfür in den kommenden drei bis vier Jahren 16 bis 18 Mrd. Euro. Doch das allein reicht nicht, auch die Politik ist gefordert: Sie muss entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, damit Industrie und Verbraucher auf dem Datenhighway beschleunigen können. Anreize für ElektroautosÄhnliches gilt für die Elektromobilität: Wer den Weg ins Zeitalter der postfossilen Energieträger ernsthaft beschreiten will, darf nicht auf halber Strecke stehen bleiben und lediglich Innovationen der Industrie einfordern. Als Staat muss er auch Impulse setzen, die den Markthochlauf von Elektroautos unterstützen. Dazu gehören steuerliche Anreize und der Aufbau der nötigen Ladeinfrastruktur. Welche Dynamik damit ausgelöst werden kann, sehen wir in anderen Ländern. Nur mit dem Willen zur Veränderung werden wir die Chancen nutzen können. Selbstzufriedenheit führt zu Stillstand. Oder, wie es Bob Dylan formuliert: “The times they are a-changin'” – die Zeiten ändern sich.—-Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA)