Industrieproduktion

Siemens-Steuerungstechnik wächst über sich hinaus

Das Ende der Lieferketten-Engpässe hat einen Boom in vielen Branchen ausgelöst. Auch Siemens erhöht die Prognosen nahezu im Quartalstakt. Die bange Frage der Aktionäre lautet: Was folgt, wenn sich die Auftragsbücher leeren?

Siemens-Steuerungstechnik wächst über sich hinaus

Siemens-Steuerungstechnik wächst über sich hinaus

Der Konzern produziert in seiner Sparte für digitale Fabriken sehr hohe Wachstumsraten – Basis der Expansion sind Marktanteilsgewinne

mic München

Siemens sitzt auf einem beeindruckenden Berg von Aufträgen. Die Kernsparte Digital Industries mit ihrer Steuerungstechnik für Maschinen und Anlagen hatte Ende März 14 Mrd. Euro in den Büchern aufgehäuft, davon 9,5 Mrd. Euro aus den Automatisierungsgeschäften. Diese Summe ist deshalb bemerkenswert, weil das schnell drehende Geschäft normalerweise nicht viele Aufträge in den Büchern stehen lässt – Orders werden in diesem hochprofitablen Feld zügig zu Umsatz. Die bange Frage der Investoren lautet daher: Was kommt nach dem Abarbeiten dieser als kurzzyklisch bezeichneten Aufträge?

Die Überlegung ist berechtigt. Schließlich haben die Lieferengpässe dafür gesorgt, dass die Kunden auch bei Siemens kräftig bestellten, um an Ware zu kommen. Wenn die Aufträge abgearbeitet sind und nicht ausreichend neue Orders folgen, dann leidet nicht nur der Umsatz, sondern stark überproportional die Profitabilität.

Klar ist, und daran lassen auch Siemens-Chef Roland Busch und sein Finanzvorstand Ralf Thomas keinen Zweifel, dass ein Auftragsbuch von 14 Mrd. Euro für Digital Industries und ein ebenfalls prall gefülltes Buch der Schwestersparte Smart Infrastructure kein Dauerzustand sein kann. „Wir gehen davon aus, dass sich die Bestandsniveaus in den kommenden Quartalen sukzessive abbauen werden“, sagte Thomas bei der Vorlage der Halbjahreszahlen im Mai. Busch kündigte an, der Bestand in den kurzzyklischen Produkt- und Systemgeschäften werde auf ein nachhaltiges Niveau zurückkehren.

Wachstumsrate geht durch Decke

Ist die Party also im nächsten Geschäftsjahr vorüber? In der ablaufenden Woche hat der Siemens-Vorstand eine andere Antwort gegeben. Die Botschaft: Die Aktionäre können weiter mit starkem Wachstum rechnen. Das Management belässt es nicht bei Worten, sondern untermauert den Anspruch mit Investitionen. Insbesondere die Sparte Digital Industries darf ihre Kapazitäten aufstocken. Sie erhält in Singapur ein neues Werk, zudem wird der Standort im chinesischen Chengdu kräftig aufgerüstet. 340 Mill. Euro lässt der Konzern dafür springen, 800 neue Arbeitsplätze sollen entstehen.

Warum gerade die Sparte Digital Industries in den Genuss der Expansion kommt, abseits einer Investition von 100 Mill. Euro für die Schwestersparte Smart Infrastructure? Die Antwort von Busch in einer Online-Vorstellung des Investitionspakets gibt den entscheidenden Hinweis: „Schauen Sie sich die Wachstumsraten an.“

Tatsächlich sind die Zahlen beeindruckend. Im zweiten Quartal (Januar bis Ende März) steigerte die Sparte ihre Erlöse auf vergleichbarer Basis um 23%. Dies war zwar der höchste Wert in den vergangenen Jahren, aber kein Ausreißer. In den neun Quartalen seit Beginn des Geschäftsjahres 2020/2021 betrug das Plus – zeitlich rückwärts notiert – 15%, 18%, 12%, 9%,11%, 15%, 17%, 14% und 5%.

Wie gelingt dies? Natürlich gibt es im Moment Nachholeffekte von der Coronakrise. Außerdem sorgen staatliche Investitionsprogramme in zunehmendem Maß für Rückenwind. Darüber hinaus leistet der Aufbau neuer Fabriken beispielsweise für die Batterieproduktion einen Beitrag.

Die Antwort von Thomas, die er im Gespräch mit Analysten im Mai gab, geht jedoch darüber hinaus: „Wir haben einen wirklich guten Grund zu glauben, dass wir Marktanteile gewinnen.“ Der Konzern expandiere deutlich schneller als die Konkurrenz, fügte Busch im Juni bei der Vorstellung der Investitionsoffensive hinzu. Bereits im Mai hatte er erklärt, dass das Automatisierungsgeschäft die relevanten Wettbewerber im zweiten Quartal des Geschäftsjahres erneut hinter sich gelassen habe – mit einem Umsatzplus von 26%.

Wer dies nachvollziehen will, steht vor einer schwer lösbaren Aufgabe. Der Konzern listet allein auf seiner IR-Seite zehn Unternehmen auf, die er quer über alle Geschäftsbereiche als Vergleichsmaßstab sieht: Schneider, Rockwell, Emerson, Johnson Controls, PTC, ABB, Cadence, Dassault Systèmes, Eaton und Alstom. Dies sind nur die börsennotierten Konkurrenten, und dort lediglich die Big Player. Außerdem: Es sind jeweils unterschiedliche Sparten dieser Wettbewerber relevant.

Siemens selbst hat auf der Hannover Messe im April die Umsatzentwicklung des Automatisierungsgeschäfts mit der Performance von Konkurrenten verglichen: dem Schnitt der relevanten Sparten von ABB, Rockwell, Schneider Emerson, Yokogawa und mit dem Spezialisten WEG. Demnach haben die Münchner seit gut zwei Jahren immer die Nase vorn.

Derlei Berechnungen werden vom Analysten Gael de-Bray von der Deutschen Bank bestätigt. Während Siemens im ersten Quartal des Geschäftsjahr 2022/2023 bei einem Plus von 23% gelandet sei, habe ABB nur 15% und Rockwell 10% erreicht. In den vergangenen drei Jahren sei die Sparte Digital Industries im Schnitt um fünf Prozentpunkte schneller als die Wettbewerber gewachsen, schreibt er in seiner Studie „Market Share Gains in Automation und Electrification“.

Das nächste Juwel?

Eine derartige Erfolgsgeschichte möchte Siemens nun auch in der Schwestersparte schreiben. „Wenn sich Smart Infrastructure weiter so entwickelt wie in den vergangenen zwei Geschäftsjahren, dann werden wir ein weiteres Juwel polieren“, erklärte Thomas im März im Interview der Börsen-Zeitung. Im Mai betonte er, die Sparte habe im Wettbewerbsvergleich eine äußerst beeindruckende Bilanz vorzuweisen: „Unter anderem ist das Geschäft mit Systemen für Mittelspannung zum Marktführer geworden, und mit dem Electrical-Products-Geschäft haben wir eine starke Position 2 im Markt inne.“ Gael de-Bray kommt zum gleichen Ergebnis.

Das Ende der Lieferketten-Engpässe hat einen Boom in vielen Branchen ausgelöst. Auch Siemens erhöht die Prognosen nahezu im Quartalstakt. Die bange Frage der Aktionäre lautet: Was folgt, wenn sich die Auftragsbücher leeren? Siemens verbreitet mit Investitionsversprechen Zuversicht. Basis sind Marktanteilsgewinne.

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