Sustainable Corporate Governance am Scheideweg
Die deutsche Corporate Governance bei kapitalmarktorientierten Unternehmen steht vor großen Herausforderungen, die alle miteinander verknüpft sind: digitale Transformation (u. a. Big-Data-Analysen und Blockchain-Technologie), Auswege aus der Coronakrise und Einbeziehung der Klimaschutzpolitik (Sustainable Corporate Governance) sowie Reaktion auf den aktuellen Wirecard-Skandal. Mit Blick auf Wirecard fällt auf, dass sich die Diskussion zur Reformierung des deutschen Corporate-Governance-Systems primär auf die Enforcement-Instanz (bislang DPR und BaFin) und den Berufsstand der Wirtschaftsprüfer reduziert. Der Verfasser möchte sich an dieser Stelle nicht in die Schar derer einreihen, welche beiden Corporate-Governance-Instanzen massive Unzulänglichkeiten vorwerfen. Diese liegen auf der Hand und sollten zeitnah behoben werden. Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Herausforderungen wäre es jedoch ein idealer Zeitpunkt, um das gesamte Corporate Governance-System in den Blick zu nehmen.Die deutschen Corporate-Governance-Regulierungen seit Beginn des neuen Jahrtausends lassen sich häufig auf konstatierte Missstände in der Unternehmensüberwachung zurückführen. So wurde u. a. auch der Deutsche Corporate Governance Kodex (DCGK) im Jahre 2002 als Reaktion auf die damalige Pleite der Holzmann AG ins Leben gerufen. Unzählbare interessante Abkürzungen für Reformgesetze wie KonTraG, TransPuG, BilKoG, APAG und KapMuG sind eine kleine Auswahl. Verhindert haben diese weder die Finanzkrise 2008/09 noch den Wirecard-Skandal. Infolge der vielen Corporate- Governance-Gesetze in den vergangenen Jahren sind die relevanten aktien- und handelsrechtlichen Bestimmungen sehr komplex geworden. Hiervon zeugt unter anderem die “Zersplitterung” der kapitalmarktorientierten Berichterstattung, die bereits kritisiert wurde (vgl. BZ vom 7. März). Es ist an der Zeit, die Normen zur Corporate Governance systematisch zu überprüfen, um neben den steigenden Digitalisierungsanforderungen auch die Lehren aus der Coronakrise, der Klimadiskussion und aus dem Wirecard-Fall zu ziehen. Prüfungsumfang erweiternBundesfinanzminister Scholz scheint Interviews zufolge schnelle Regulierungen zu präferieren und möchte hier primär Finanzaufsicht und Abschlussprüfer in den Blick nehmen. Durch die Kündigung des Vertrags mit der DPR wird voraussichtlich künftig die BaFin sämtliche Enforcement-Prüfungen mit ausgeweiteten Ressourcen durchführen. Eine Ausweitung der Rotationsfristen (derzeit grundsätzlich zehn Jahre) und eine Trennung von Prüfung und Beratung (z. B. Steuerberatungsleistungen) für Abschlussprüfer stehen ebenfalls zur Diskussion. Die letztgenannten Reformansätze wurden erst im Jahre 2016 mit dem “AReG” aufgegriffen, wenngleich im Rahmen der Umsetzung der EU-Verordnung äußerst halbherzig.Schaffen diese angedachten Reformmaßnahmen neben mehr Unabhängigkeit auch die gewünschte verbesserte Prüfungsqualität? Es ist an der Zeit, eine Ausweitung des Prüfungsumfangs bei börsennotierten Unternehmen auf politischer Ebene und auf Ebene des Berufsstands zu diskutieren. Aus langfristiger Sicht werden wir nicht darum herumkommen, dass die bisherige Pflichtprüfung der Finanzberichterstattung auch mit einer zwingenden inhaltlichen Prüfung der (integrierten) Environmental-, Social- & Governance-(ESG)-Berichterstattung durch Abschlussprüfer und BaFin einhergeht. Denn ungeprüfte ESG-Informationen sind anfällig für Greenwashing und Informationsüberflutung. Und der Wirecard-Fall ist ein Governance-Problem. Dies würde eine ausgeweitete Geschäftsführungsprüfung und perspektivisch auch einen flächendeckenden Einsatz von Big-Data-Analyseverfahren (z. B. Verfahren der künstlichen Intelligenz) durch die Wirtschaftsprüfer notwendig machen. Zudem ist die bisherige gesetzliche Abschlussprüfung nicht als Unterschlagungsprüfung mit besonderem Misstrauen konzipiert. Bei einer regelmäßigen Anwendung von forensischen Prüfungsmethoden – analog zu KPMG bei der jüngsten Sonderprüfung – wird die Abschlussprüfung insgesamt deutlich aufwendiger. Werden die Mandanten bereit sein, ohne bisherige Existenz einer gesetzlichen Gebührenordnung diese signifikanten Erhöhungen der Prüfungshonorare zu akzeptieren? Interne Governance anpassenZu wenig wird in der aktuellen Diskussion auf die notwendigen Anpassungen in der internen Corporate Governance (Vorstand und Aufsichtsrat) hingewiesen. Der § 91 Abs. 2 AktG zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems (RMS) ist seit der erstmaligen Einführung 1998 vom Wortlaut her unverändert geblieben und bedarf einer Aktualisierung (zum Beispiel Klarstellung des Managements von Finanz- und ESG-Risiken inkl. eines Compliance-Systems). Aufsichtsräte müssen neben der Prüfung der Rechnungslegung auch das RMS gem. § 107 Abs. 3 AktG überwachen. Bislang ist die Einrichtung eines Prüfungsausschusses für börsennotierte AGs immer noch freiwillig. Auch muss nach § 100 Abs. 5 AktG nur eine Person im Aufsichtsrat als “Finanzexperte” Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung “oder” Abschlussprüfung besitzen. Prüfungsausschüsse könnten künftig zwingend bei börsennotierten AGs vorgeschrieben werden, wobei diese zumindest mehrheitlich Financial Experts aufweisen müssten. Idealerweise müssten Prüfungsausschüsse auch ESG-Experten sein, um die nichtfinanzielle Berichterstattung wirkungsvoll prüfen zu können.Fazit: Die aktuelle Reformdiskussion sollte die in- und externe (Sustainable) Corporate Governance aus einer ganzheitlichen Perspektive erfassen. Prof. Dr. Patrick Velte lehrt Accounting, Auditing & Corporate Governance an der Leuphana Universität Lüneburg. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft. Von Patrick VelteDie bisherige Pflichtprüfung der Finanzberichterstattung sollte um eine inhaltliche Prüfung der ESG-Berichterstattung ergänzt werden.