CFO-InterviewRalf Thomas

Siemens schult konsequent den Finanznachwuchs

Die Siemens-Finanzabteilung ist ein gut geölter Apparat. Dies ist das Resultat harter Arbeit. Dazu gehört auch, die Talente von übermorgen zu entdecken und zu fördern. Finanzvorstand Ralf Thomas engagiert sich dabei in hohem Maß persönlich.

Siemens schult konsequent den Finanznachwuchs

Herr Thomas, Sie engagieren sich sehr stark in der Förderung des Siemens-Finanznachwuchses. Warum?

Wir leben in einer Welt mit hoher Umwelt-Ambiguität, in der zentralistische Führungsmodelle zum Scheitern verurteilt sind. Ein großer Konzern wie Siemens ist also auf Kompetenz in der Breite angewiesen. Dass die Menschen entsprechend befähigt sind, ist nicht nur deren Bildungsverantwortung, sondern auch eine Bringschuld des Unternehmens. Daher betrachte ich es auch als meine Aufgabe, die Weiterbildung und Weiterentwicklung unserer Beschäftigten in Finanzfunktionen zu fördern.

Was tun Sie?

Neben den normalen Weiterbildungsprogrammen „on the job“ bieten wir drei ausgefeilte Förderprogramme für interne und externe Bewerber an. Fast noch wichtiger als die reine Weiterbildung ist das Durchsprechen von Entwicklungschancen unseres Führungsnachwuchses im Financial Leadership Team.

Sie könnten diese Aufgabe aber den Personal-Spezialisten überlassen.

Ich investiere meine Zeit dort, wo ich einen hohen Wirkungsgrad habe. Der Einfluss in dieser Sache ist enorm. Ich behaupte: Jede Stunde, die ich dieser Aufgabe zusammen mit meinem Führungsteam widme, zahlt sich hundertfach aus.

Inwiefern?

Wir möchten Verhaltensvorbilder für unsere Mitarbeiter sein und versuchen authentisch vorzuleben, dass Nachwuchsförderung eine der vornehmsten Aufgaben aller Führungskräfte ist. Denn wir wollen Kompetenz für die Lösung jener Probleme vorhalten, die wir nicht kennen, die aber sicher auf uns zukommen. Zudem brauchen wir eine Planung für die Besetzung von leitenden Positionen.

Siemens könnte sich diese Finanzkompetenz per Headhunter einkaufen.

Ich kann mir nur in den wenigsten Fällen vorstellen, einen Headhunter zu beauftragen, um eine Finance-Führungskraft zu finden für eine bestimmte Aufgabe. In der Fläche wäre das ein Canossa-Gang für unser Unternehmen und mich selbst.

Warum?

Erstens würde es bedeuten, dass ich mein Netzwerk von Fachleuten nicht richtig pflege. Zweitens weiß Siemens natürlich besser als ein Headhunter, was der Konzern braucht. Und drittens: So sehr ich die Arbeit der Headhunter schätze, sind sie nicht immer frei von eigenen Interessen.

Was ist für einen leitenden Finanzler wichtig?

Ausgangspunkt ist das fachliche Können; außerdem gilt es, komplexe Prozesse zu managen. Aber zudem ist wichtig: Jede Finance-Führungskraft sollte Siemens aus vielerlei Blickwinkeln kennen.

Wie erreicht man das?

Keine Nachwuchskraft sollte auf einem einzigen Job alt werden.

Wie bitte?

Wir würden den Kolleginnen und Kollegen schon gönnen, lange Zeit auf einer Stelle zu bleiben. Früher war das ja häufig so: Viele haben in erfolgreichen Sparten ihre Karriere wie in einem Silo absolviert und im Kern immer das Gleiche gemacht. Warum wechseln? Jeder hat gesagt, dieses Silo ist das beste aller Zeiten.

Wo liegt das Problem?

Märkte verändern sich – und das immer schneller. In einer Krise fehlen dann die Kompetenz und Reaktionsfähigkeit. Unterschiedliche Sichtweisen ermöglichen dagegen eine bessere Urteilskraft. Ich bezeichne dies mit dem Schlagwort Perspektiven-Pluralismus. Der Wechsel der Perspektive schult das Auge.

Dies müssen Sie erläutern.

Wir haben hochintelligente Menschen in den Landesgesellschaften, die ihre Perspektive und die lokalen Gegebenheiten fantastisch verstehen, aber natürlich nicht wissen, warum die Zentrale bestimmte Dinge aus übergeordneten Gründen macht. Sie können das ganze Bild per definitionem nicht sehen. Die Kolleginnen und Kollegen in München sehen das ganze Bild, aber sie wissen nicht immer, wie schwer der Alltag in der Fabrik ist. Und die Fabrik ist überzeugt, dass die Menschen in der Zentrale die jeweiligen Märkte und Technologien nicht ausreichend kennen.

Der klassische Interessenkonflikt.

Siemens ist hier nicht einmalig. Aber dieses Spannungsfeld ist bei uns vielleicht ausgeprägter, weil wir in so vielen Ländern tätig sind.

Eigentlich bräuchte ja jede Führungskraft diesen Perspektiven-Pluralismus.

Natürlich haben wir derartige Ansätze beispielsweise auch für die Technik-Verantwortlichen. Es ist keine „Raketenwissenschaft“, mehr oder weniger machen das alle. Aber Mitarbeitende im Finanzwesen haben mehr Bewegungsspielräume, sich durch die Matrix des Konzerns zu bewegen, also unterschiedliche Fachgebiete und Regionen kennenzulernen.

Welche Wechsel gibt es?

Eine Finance-Kollegin oder ein -Kollege, der vorher im Projektgeschäft in Afrika tätig war, kann auch das Produktgeschäft in Indien begleiten – mit einem Team um sich herum, das sie oder ihn trägt. Wir wollen den Menschen, von denen wir glauben, dass sie unser Unternehmen übermorgen lenken sollen, in Finance eine Plattform bieten, ähnliche Erfahrungen zu sammeln und die Komplexität des sozialen Gebildes Siemens weltweit besser zu verstehen. Das prägt Korpsgeist im positiven Sinne.

Wir nehmen uns sehr viel Zeit, darüber nachzudenken, wer denn welche Nachfolge antreten könnte.

Wie lief denn Ihre eigene Karriere?

Ich habe nach Lehre und Studium als Freelancer mit einem Steuergutachten bei Siemens begonnen und durfte dann in einem konzerninternen Beratungsprojekt das EVA-(Geschäftswertbeitrags-)Konzept einführen. Ich war also purer Zentralist. Dann bin ich in eine Landesgesellschaft gekommen. In Südafrika habe ich den ganzen Interessenkonflikt erlebt. In einer anderen Station meiner Laufbahn habe ich Fabrik- und Entwicklungsprozesse kennenlernen dürfen, aber auch mit dem Betriebsrat diskutiert, wie viele Fahrradständer man braucht. In der nächsten Aufgabe habe ich als Rechnungslegungschef das große Ganze gesehen.

Sie haben Siemens aus unterschiedlichen Perspektiven kennengelernt.

Allerdings war dies eine mehr oder weniger zufällige Abfolge von beruflichen Veränderungen. Meine Erfahrung dabei war jedoch prägend: Diese Abfolge schult das Auge für das, was zwischen den verschiedenen Wahrnehmungswelten alles passieren kann.

Zum Beispiel?

Wenn ich als Rechnungswesen-Leiter eine Richtlinie herausgeben wollte, dann habe ich nicht nur mit meinem Stab in München gesprochen, sondern auch mal meine Kollegen in Südafrika gefragt, ob das für sie machbar ist. Mir steckte in den Knochen, dass ich während meiner Zeit in Südafrika beauftragt wurde, US-GAAP in Namibia einzuführen. Allein das Lesen der Richtlinie hätte 150 Manntage gebraucht, ich hatte aber nur acht Teammitglieder.

Seit wann fördert Siemens denn diesen Perspektiven-Pluralismus?

Meine Vorgänger haben, jeder in seiner Epoche, viel Gutes getan. Ich habe noch Karl-Hermann Baumann erlebt, der in den neunziger Jahren etabliert hat, dass die Siemens-Finanzabteilung mehr macht, als nur den Abschluss durch die Tür zu bringen. Seitdem bringt sich der Konzern in Willensbildungsprozesse beispielsweise bei der Weiterentwicklung der Rechnungslegung auch außerhalb des Unternehmens ein. Sein Nachfolger Heinz-Joachim Neubürger hat dann meiner Wahrnehmung nach als Erster begonnen, systematisch Nachfolgeplanung und Ertüchtigungsarbeit in diesem Bereich zu leisten.

Was hat er eingeführt?

Es gab legendäre Meetings im Siemens-Bildungszentrum in Feldafing. Es wurden gigantische Mengen von Leitz-Ordnern hingeschleppt mit Lebensläufen von Menschen, die keiner in der Runde von Führungskräften kannte – ich war mehr oder weniger als Kofferträger dabei. Neubürger hat auf diese Weise systematisch durchleuchtet, wen man fordern und fördern könnte. Dieser gezielte Förderungsansatz hat sich dann immer weiter entwickelt.

Und heute?

Dreh- und Angelpunkt für mich ist das Financial Leadership Team. Diese Gruppe rekrutiert sich aus den Finanzchefs der großen Siemens-Geschäftseinheiten, aus den Finance-Governance-Verantwortlichen und CFOs der gewichtigen Wirtschaftsräume. Dieses gute Dutzend Personen tagt rund achtmal im Jahr und spricht dabei immer auch über Personalthemen.

Wie läuft dies?

Es geht um vier Felder: Aktuelle Nachfolgeplanung, Talentförderung, mittelfristige Nachfolgeplanung und personalpolitische Themen wie Incentives.

Was macht dieses Financial Leadership Team konkret in der Talentförderung?

Wir sperren uns einmal im Jahr für zwei bis drei Tage gemeinsam ein und lernen zwölf Talente aus unseren Top 100 intensiv kennen. Das Ergebnis ist ein klarer Entwicklungsplan für jede und jeden. Die Talente erhalten einen Mentor aus unserem Kreis.

Und dann?

Wenn man das lang genug macht, und wir machen das jetzt richtig lang, dann entsteht so etwas wie ein „Biotop“ – nämlich ein gemeinsames Verständnis, was für das Talent Frau Schmidt oder Herrn Maier perspektivisch gut ist. Wir nehmen uns also sehr viel Zeit, darüber nachzudenken, wer denn welche Nachfolge mal antreten könnte, und sprechen mit den Betroffenen auch sehr offen darüber, was sie selbst wollen.

Wie wird eine Stelle neu besetzt?

Dies ist dann bei Finance relativ einfach. Mit der Nachfolgeplanung haben wir in der Regel eine ganze Kaskade von Berufungen schon gedanklich vorweggenommen. Wir hatten einmal den Fall, dass eine Berufung sieben weitere Beförderungen ausgelöst hat.

Gibt es auch Absagen?

Erst vor ein paar Monaten hat mir eine junge Frau gesagt, sie habe einen tollen Job bei Siemens und der vorgeschlagene Wechsel sei gerade nicht kompatibel mit ihren privaten Plänen. Das fand ich sehr richtig, ist aber eher die Ausnahme.

Wie reagieren Sie?

Warum sollte man versuchen, jemanden an eine Stelle zu transportieren, wo sie oder er nicht hinwill? Es ist ja trotzdem super, wenn die talentierte Kollegin oder der talentierte Kollege die bisherige Arbeit weiterhin gerne macht; auch diese Konstanz in einem Unternehmen mit mehr als 300.000 Beschäftigten wird gebraucht.

Sagt der Gesamtvorstand manchmal Nein zu Ihren Berufungsvorschlägen?

Der Vorstand weiß, dass jeder Vorschlag für Top-Positionen vorher aus allen Perspektiven diskutiert worden ist. Die Vorstandskollegin und -kollegen kennen den Prozess und haben Vertrauen in die Urteilskraft des Teams.

Sind Personalentscheidungen nicht auch Machtfragen?

Für unsere Finanzfunktionen gilt im Kern spätestens seit der Compliance-Krise, dass sie von unten nach oben durchgehend in der Hand der Finanz-Verantwortlichen liegen.

Aber vor Ort gibt es sicherlich Bevorzugung wegen persönlicher Präferenzen.

Ein latentes „Gutsherren-Verhalten“ kann ich natürlich nicht ausschließen, es sollte aber wenn überhaupt nur vereinzelt vorkommen. Im Grundsatz gilt: Niemand geht durch die Fabrik und sagt: Du bist klug und dich fördere ich. Talentunterstützung im Siemens-Finance-Bereich ist vielmehr Ergebnis von Iterationsschleifen, die eben, wenn sie über viele Jahre gelebt werden, ein hohes Maß an Transparenz und Qualität erzeugen.

Zielen Sie auch auf externe Bewerber?

Durchaus. Erstens rekrutieren wir natürlich auch wie alle Unternehmen für manche Positionen Manager anderer Unternehmen. Zweitens gibt es jene Externe, die früher für Siemens gearbeitet haben und die wir gezielt zurückzugewinnen versuchen. Drittens kommen über das Finance Excellence Program externe Fachkräfte ins Unternehmen, die schon Berufs- und Führungserfahrung mitbringen.

Wie ist dieses Programm gestaltet?

Es geht zurück auf eine Initiative meines CFO-Vorgängers Joe Kaeser im Jahr 2008. Die Bewerber werden nach bestimmten Kriterien extern identifiziert. Es ist als zweijähriges Traineeprogramm ausgestaltet und sieht drei Pflichtrotationen vor. Der Sponsor des Programms ist immer der Unternehmens-CFO. Jeder, der in das Programm aufgenommen wird, ist vorher durch einen langen Interviewprozess gegangen und hat am Ende die Unterstützung mindestens eines Financial-Leadership-Team-Mitglieds, der im letzten Interview entscheidet.

Wie läuft das Programm?

Einen Monat lang kriegt man einen Überblick, dann sind die Teilnehmer dreimal acht Monate in verschiedenen Geschäften und unterschiedlichen Märkten aktiv.

Welche Anforderungen stellt Siemens an die Bewerber?

Sie kommen in der Regel mit fünf Jahren Arbeitserfahrung zu uns und haben teilweise Führungserfahrung. In der Regel waren sie zuvor im Finanz-Umfeld aktiv, beispielsweise in Banken oder im M&A-Umfeld. Ihr Ziel ist nun die Großindustrie.

Wie viele Teilnehmer haben Sie?

Mittlerweile sind jährlich 1.500 und 2.000 Personen in der ersten Runde des Auswahlprozesses dabei. Davon werden zurzeit sieben Personen genommen. Wir haben insgesamt bei über 21.000 Bewerbungen seit 2008 insgesamt 156 Bewerberinnen und Bewerbern Angebote geschickt, von denen 109 akzeptiert worden sind. 76 sind bei uns geblieben, also bei der Siemens AG samt Siemens Healthineers und Siemens Energy.

Erreichen Sie eine Mischung?

Das Netzwerk ist wirklich breit. Die 76 Absolventen kommen aus 23 Nationen und aus 17 verschiedenen Business Schools und Universitäten.

Es ist keine Einbahnstraße. Bei den Fireside-Chats lerne ich, würde ich mal behaupten, mehr als die anderen Teilnehmenden.

Was macht Siemens noch?

Wir haben zwei weitere Programme. Im Commercial Assignment Program werden Siemens-Beschäftigte eineinhalb Jahre gefördert, die gegebenenfalls auch ohne Universitäts-Hintergrund aus ihren jeweiligen operativen Umfeldern sich selbst nominieren und dann durch einen Auswahlprozess gehen. Seit dem Jahr 2015 haben inzwischen 219 Beschäftigte dieses Programm durchlaufen, wodurch sie andere Länder und Siemens-Geschäfte kennengelernt haben.

Was leistet das zweite Programm?

Wir versuchen, Theorie und Praxis möglichst nahe zusammenzubringen. Gemeinsam mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg haben wir in meiner Amtszeit einen eineinhalbjährigen Executive MBA entwickelt, den mittlerweile 226 Teilnehmende absolviert haben. 48% sind Frauen.

Was bringt Ihnen persönlich, sich mit Nachwuchsförderung zu beschäftigen?

Mir macht die Arbeit mit den jungen Leuten viel Spaß. Ebenfalls ist wichtig: Es ist keine Einbahnstraße. Bei den Fireside-Chats lerne ich, würde ich mal behaupten, mehr als die anderen Teilnehmenden. Ich lerne, was die jungen Menschen beschäftigt – und ich erfahre manchmal Dinge, die ich nicht so auf dem Radar hatte. Solche Treffen erzeugen eine gewisse Nähe, die es mir ermöglicht zu merken, was die Belegschaft wirklich bewegt und ob die Kolleginnen und Kollegen mitziehen oder eben auch warum manchmal nicht und wo Vorbehalte und Hürden sind.

Im Interview: Ralf Thomas

„Der Wechsel der Perspektive schult das Auge“

Der Siemens-Finanzvorstand schickt den Finance-Nachwuchs quer durch den Konzern – Topmanagement steckt viel Zeit in die Talentförderung

Die Siemens-Finanzabteilung ist ein gut geölter Apparat. Dies ist das Resultat harter Arbeit. Dazu gehört auch, die Talente von übermorgen zu entdecken und zu fördern. Finanzvorstand Ralf Thomas engagiert sich dabei in hohem Maß persönlich.

Das Gespräch führte Michael Flämig.

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