IAA-SERIE: AUTOINDUSTRIE UNTER STROM (14)

Tankstellenbetreiber überlassen "E-Zapfsäulen" anderen

Statt Aral und Shell bieten Stadtwerke und Stromversorger Ladestationen an - Ölkonzerne kaum engagiert - Geringer Marktanteil von E-Autos schreckt ab

Tankstellenbetreiber überlassen "E-Zapfsäulen" anderen

Die großen Ölkonzerne und ihre Tankstellenketten sehen einer möglichen Ära der Elektromobilität gelassen entgegen. Ihr Zugeständnis an die neue Antriebstechnik ist eine überschaubare Zahl an Ladestationen. Sonst ist kein Anzeichen für eine Umstellung der Geschäftsmodelle erkennbar. Offenbar misstrauen BP, Shell & Co. dem Erfolg des E-Autos. Zudem soll die Zahl der Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb bis 2050 stark wachsen. Von Martin Dunzendorfer, FrankfurtDie Elektrifizierung des Individualverkehrs nagt (wen wundert’s?) am Geschäftsmodell der Ölkonzerne und ihrer Tankstellenketten – so sich denn das E-Auto in absehbarer Zukunft wirklich durchsetzt. Genau daran zweifeln BP (Aral), Shell und Konsorten offenbar, sonst wäre die Unruhe in den Chefetagen weitaus größer, über Veränderungen der Unternehmensstruktur würde viel stärker nachgedacht und auch die Investitionen für eine herannahende Welt voller Elektrofahrzeuge hätten ganz andere Dimensionen. Stark differierende Prognosen Trotz der verbreiteten Zurückhaltung, was konzerninterne Veränderungen im Hinblick auf die Elektrifizierung des Verkehrs angeht, gehen die Erwartungen der Energieriesen, wie sehr sich batteriebetriebene Fahrzeuge in den nächsten 20 Jahren durchsetzen werden, weit auseinander. Royal Dutch Shell rechnet zum Beispiel damit, dass bis 2040 rund ein Viertel aller Fahrzeuge auf der Welt elektrisch betrieben sein werden. Das ist eine der optimistischeren Schätzungen und erklärt, warum der niederländisch-britische Konzern unter den Großen der Branche als Vorreiter bei Investments in regenerative Energien und Ladestationen für Elektroautos gilt. Eine Studie zur “Tankstelle der Zukunft” von Aral kommt dagegen zu dem ernüchternden Schluss, dass 2040 der Anteil rein batterieelektrisch betriebener Pkw in Deutschland gerade mal 3 % betragen wird. Die Quote der Plug-in-Hybridfahrzeuge werde bei immerhin 16 % liegen. Entsprechend zurückhaltend zeigt sich der Marktführer unter den Tankstellenbetreibern in Deutschland (siehe Grafik), wenn es hier um Investitionen geht.Die Nachfrage der Autofahrer nach Benzin, Diesel, Strom oder einem anderen Kraftstoff hängt aber nicht nur vom Anteil der Antriebsart am Gesamtvolumen der Kfz ab, sondern auch vom Durchschnittsverbrauch (etwa pro 100 Kilometer) und vor allem vom absoluten Wert der sich auf den Straßen bewegenden Fahrzeuge. Gegenwärtig gibt es etwa 1,3 Milliarden Kfz auf der Welt. Bis 2030 wird bei stabiler Wachstumsrate der Bestand auf 1,6 Milliarden zunehmen, und nach jüngsten Studien – u. a. der Internationalen Energieagentur in Paris – soll es 2050 bis zu 2,7 Milliarden Autos auf der Erde geben. Der Anteil am Kuchen wird für die Anbieter konventioneller Kraftstoffe aller Voraussicht nach also kleiner, der Kuchen selbst aber deutlich größer. Zu Panik und übereilten Milliardeninvestitionen in E-Technik besteht also aus Sicht der Ölmultis kein Grund.Auf ihren Webseiten, in Broschüren und Gesprächen versuchen Ölkonzerne und Tankstellenketten dennoch davon zu überzeugen, wie bewusst sie sich der herannahenden Zeit eines Individualverkehrs mit einem Mix aus diversen Kraftstoffen sind. Deshalb seien sie auch mit aller Kraft dabei, sich auf diese Zeit vorzubereiten, indem sie Infrastruktur für strom- und gasbetriebene Fahrzeuge schaffen. Doch die Fakten widerlegen meist die vollmundigen Versprechungen.Eines der größten Hindernisse für die Akzeptanz von Elektrofahrzeugen ist die fehlende Verbreitung benutzerfreundlicher und schneller Ladeinfrastruktur, insbesondere außerhalb von Städten und Metropolregionen. Das Unternehmen unter den Big Five (ExxonMobil, Royal Dutch Shell, BP, Total, Chevron), das noch am stärksten in eine Welt batteriebetriebener Pkw und Nutzfahrzeuge investiert, ist in dieser Hinsicht Shell. Doch lebt der Konzern von der Öl- und Gasproduktion und dem Verkauf dieser fossilen Brennstoffe. Dem Statement “Wir halten den Ausbau von Elektromobilität im Pkw-Sektor für sinnvoll und werden unseren Teil dazu beitragen, dieser Technologie den Weg zu bereiten” sollte man also nicht allzu großes Gewicht beimessen. Nichtsdestotrotz ist die von Shell vertretene Ansicht, dass Elektromobilität “ein Baustein im künftigen Kraftstoffmosaik” ist, sicher konsensfähig. 50 000 auf einen SchlagDen auffälligsten Schritt in Richtung elektrifizierte Verkehrswelt machte Shell im Oktober 2017. Damals gab das Unternehmen die Übernahme der niederländischen New Motion bekannt, die mit einem Zugang zu mehr als 50 000 öffentlichen Ladestationen nach eigenen Angaben über das größte Ladenetz in Europa verfügt. In Deutschland biete New Motion den Zugang zu 10 000 Ladesäulen (bis 22 kW). Der Kaufpreis wurde damals ebenso wenig kommuniziert wie jüngere Bilanzzahlen des Mobility-Service-Providers. Die letzten bekannten Daten stammen von 2016: In jenem Jahr machte New Motion 12,9 Mill. Euro Umsatz und 3,9 Mill. Euro Verlust. Dass sogar Branchenkenner damals betonten, Shell sei als erster Ölkonzern “in nennenswertem Umfang” in dieses Geschäftsfeld eingestiegen, spricht Bände, denn für den Energieriesen, der 2018 über 388 Mrd. Dollar Umsatz und mehr als 23 Mrd. Dollar Gewinn machte und einen freien Cash-flow von fast 40 Mrd. Dollar generierte, war der Erwerb des Ladestationenbetreibers geschäftlich eine Marginalie.Immerhin zeigt sich Shell als einer der wenigen großen Mineralölkonzerne aufgeschlossen gegenüber dem Thema Ladeinfrastruktur. Im vergangenen April trat die Gruppe Charin bei, einer Initiative zur Entwicklung und Etablierung von CCS als Standard für das Laden von E-Fahrzeugen. CCS steht für Combined Charging System; Steckervarianten und Ladeverfahren sind hier genormt, sodass wahlweise Gleich- oder Wechselstrom übertragen werden kann. CCS wird von Europäern und den USA favorisiert.Zudem hat sich Shell dem Gemeinschaftsprojekt Ionity angeschlossen. Ionity ist ein Joint Venture der Autohersteller BMW, Daimler, Ford sowie des Volkswagen-Konzerns mit den Marken Audi und Porsche. Es wurde 2017 gegründet, um ein Netz von öffentlich zugänglichen 350-kW-Ladestationen für Elektroautos entlang den europäischen Hauptverkehrsachsen aufzubauen und zu betreiben, mit dem Ziel, Elektromobilität langstreckentauglich zu machen.Die Standorte der Ladestationen befinden sich bei Partnerunternehmen wie Shell, der österreichischen OMV oder Tank und Rast, mit denen Kooperationsverträge geschlossen wurden. Die Standorte haben jeweils zwei bis acht Ladepunkte, wobei Erweiterungen möglich sind.Die Ladestationen der in München ansässigen Ionity basieren größtenteils auf dem CCS-Standard mit 350 kW. Einige Ladestecksysteme, etwa mit Chademo-Anschlüssen, sind auf 43 kW bzw. 50 kW beschränkt. Mit der in Japan entwickelten elektrischen Schnittstelle Chademo, die auf Gleichspannung basiert, kann der Akkumulator eines Elektro- oder Plug-in-Hybrid-Fahrzeugs direkt mit einer hohen elektrischen Leistung geladen werden. Die größte Verbreitung haben Chademo-Ladesäulen mit einer Ladeleistung bis 50 kW. Nachteile des japanischen Systems: Bei den Schnellladern mit Gleichstrom gebe es Schwierigkeiten mit der Netzkapazität, heißt es, und die Kosten für Anschluss und Tiefbau seien höher. Hauptkonkurrent von Chademo ist CCS. Der Branchenführer testet Ist das Engagement von Shell in der Elektromobilität bzw. dem Angebot an Ladestationen schon leicht überschaubar, so gibt es bei den Wettbewerbern meist viele Floskeln, aber wenig Konkretes zu dem Thema. Immerhin testet der Marktführer in Deutschland, Aral, derzeit eine Ultraschnellladestation für Elektroautos in Bochum. Vier weitere mit je zwei Ladesäulen hat die BP-Tochter im Rahmen eines Elektromobilität-Pilotprojekts für die nahe Zukunft angekündigt: in Wittenburg (5 000 Einwohner; Mecklenburg-Vorpommern), Schkeuditz (18 000 Einwohner; Sachsen), Dettelbach (7 000 Einwohner; Bayern) und Merklingen (2 000 Einwohner; Baden-Württemberg) – nicht gerade Brennpunkte in der deutschen Verkehrslandschaft. Doch handelt es sich um ein Pilotprojekt und irgendwann müssen Ladestationen auch auf dem Land bereit- stehen, wenn Elektroautos künftig einen nennenswerten Anteil am Individualverkehr haben sollen. Kardinalproblem LadedauerDie Ladeleistung liegt bei 160 kW; es bestehe die Möglichkeit zur Aufrüstung auf 320 kW. Die Ladesäulen erlauben die Aufladung von Elektroautos für eine Reichweite von 100 Kilometern innerhalb von gut 6 Minuten; Ladesäulen mit 320-kW-Leistung ermöglichen die Aufladung mit entsprechend geeigneten Akkus bis 80 % der Batteriekapazität innerhalb von zehn bis 15 Minuten, versichert Aral. Es ist offensichtlich die Dauer des Ladevorgangs, an der sich der Marktführer im deutschen Tankstellengeschäft stößt. So heißt es, Aral könne eine ideale Anlaufstelle für Elektroautofahrer sein, “vorausgesetzt das Laden geht ähnlich schnell wie das Tanken”.Jedes E-Auto mit einem CCS- oder Chademo-Ladesystem kann die Ultraschnellladesäulen nutzen, verspricht Aral. Allerdings bestimme die Akkuleistung des Fahrzeugs die Ladegeschwindigkeit.Aral geht ein Kardinalproblem der Elektromobilität – die viel zu lange Ladedauer – an. So weit, so gut. Doch einbilden muss sich die deutsche BP-Tochter darauf nichts. Denn was ist ein Pilotprojekt mit fünf Ladestationen und zehn Säulen schon im Vergleich zu den knapp 2 300 Tankstellen und dem Vielfachen an Zapfsäulen, mit denen Aral die Autofahrer mit Benzin und Diesel versorgt. Zuletzt erschienen: E-Mobilität bringt Zulieferer an ihre Grenzen (13.8.) Team Toyota drückt den Power-Knopf (6.8.) China prescht in der Elektromobilität voran (31.7.)