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Trotz "Mega-Peinlichkeit" verbucht Bahnindustrie Rekord

Von Ulli Gericke, Berlin Börsen-Zeitung, 9.4.2014 Auf den ersten Blick kann die hiesige Bahnindustrie mehr als zufrieden sein. Mit 14,9 Mrd. Euro haben die Hersteller von Lokomotiven und Zügen, aber auch Gleisen, Weichen, Stellwerken oder...

Trotz "Mega-Peinlichkeit" verbucht Bahnindustrie Rekord

Von Ulli Gericke, BerlinAuf den ersten Blick kann die hiesige Bahnindustrie mehr als zufrieden sein. Mit 14,9 Mrd. Euro haben die Hersteller von Lokomotiven und Zügen, aber auch Gleisen, Weichen, Stellwerken oder Sicherungstechnik im Vorjahr einen neuen Auftragsrekord eingefahren – und zwar ohne spektakuläre Großbestellung, wie 2011, als die Deutsche Bahn bei Siemens 130 neue Fernverkehrszüge orderte und die Option für weitere 90 IC-Nachfolger unterschrieb für zusammen rund 6 Mrd. Euro.Dennoch sind Siemens, Bombardier und Alstom als die drei großen Systemhäuser hierzulande, aber auch die gut 170 großen und kleinen Mittelständler – angefangen von Atlas Copco über Knorr Bremse, Schaltbau und Stadler bis zu Vossloh – alles andere als zuversichtlich. Zwar sind die Auftragsbücher übervoll mit einem Orderbestand allein aus den vergangenen neun Jahren von fast 16 Mrd. Euro. Gleichwohl beklagen die Unternehmen Rahmenbedingungen, “die unserer Industrie ernsthafte Sorgen bereiten und immer wieder die Frage nach der Attraktivität unserer Branche aufwerfen”. Was Ronald Pörner, der Hauptgeschäftsführer des Verbands der Bahnindustrie in Deutschland (VDB), hier so vornehm zurückhaltend formuliert, klingt bei Bestellern hörbar genervter. Nicht ohne Grund hatte sich die Bahn vor Jahren zu einem Riesenauftrag für die nächste Generation von IC-Zügen durchgerungen, wollte sie damit doch die traditionelle Abhängigkeit von ihrem Haus- und Hoflieferanten Siemens beenden. Eine viele Milliarden schwere Bestellung sollte Anbieter aus nah und fern anlocken, wie den TGV-Bauer Alstom aus Frankreich oder die japanischen Shinkansen-Experten Kawasaki und Hitachi. Doch was in Großbritannien funktioniert, wo Hitachi knapp 600 Eisenbahnwagen für die “East Coast Main Line” zwischen London und Schottland fertigt und instand hält, scheint in Deutschland unmöglich. Zu risikoreich sei der Markt, zu unkalkulierbar die hiesige Zulassung neuer Loks oder Züge, winkten die fernöstlichen Anbieter ab. Und dass, obwohl der Industrieverband die Hersteller aus Japan und China als “zunehmend aggressiver auftretende Konkurrenz” auf dem reichlich 110 Mrd. Euro schweren Weltmarkt wahrnehmen. Umsatz schnellt 2014 hochTrotz dieses wachsenden Wettbewerbs hat sich die hiesige Industrie gut behauptet – wenn da nicht der rückläufige Umsatz wäre. Der scheidende VDB-Präsident Michael Clausecker führt dieses Minus auf die lange Jahre äußerst zögerliche Zulassung neuer Züge und Loks durch das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) zurück. Auch wenn das Bundesverkehrsministerium im vergangenen Sommer eine Übergangslösung mit erleichterten Zulassungsbedingungen in Kraft setzte, mussten die vielfach blockierten Hersteller durch die schier endlosen Bedenken des Amtes Verluste im hohen dreistelligen Millionen-Euro-Bereich hinnehmen – allen voran Siemens und Bombardier.Allerdings wäre es bei weitem zu kurz gesprungen, würde die verspätete Auslieferung (fast) fertiger Züge an die Bahnbetreiber ausschließlich dem EBA zugeschrieben. Das Beispiel Siemens zeigt vielmehr, dass die Hersteller ihren eigenen Ansprüchen nicht selten weit hinterherhinken. Für Ende 2011 war die Auslieferung einer Flotte neuer ICE-Züge vereinbart, die auch über die Grenzen nach Frankreich, Belgien und Großbritannien fahren sollen. Mit gut zwei Jahren Verspätung fährt nun die Hälfte dieser weißen Flitzer – aber nur hierzulande. Ob die installierte Leit- und Sicherungstechnik auch in den Nachbarstaaten funktioniert, muss sich erst noch in langwierigen Testfahrten erweisen. Die nicht enden wollende Leidensgeschichte bei dem Vorzeigeobjekt ICE, in deren Verlauf nicht nur der einstige ICE-Chef gehen musste, sondern auch Sonderbelastungen von etwa 200 Mill. Euro zu verkraften waren, hatte der neue Siemens-Chef Joe Kaeser vor einigen Monaten als “Mega-Peinlichkeit” bezeichnet. Immerhin lassen die neuen Zulassungsbedingungen des EBA erwarten, dass der Stau abgearbeiteter, aber noch nicht an die Bahnbetreiber ausgelieferter Züge im laufenden Jahr abgebaut werden kann – womit der Umsatz merklich hochschnellen sollte. “Eklatant” zu wenig GeldWährend es bei der Zulassung “vielversprechende” Fortschritte gibt, beklagt die Industrie – unisono mit der Deutschen Bahn – den Stillstand bei der Infrastruktur. Verbuchten die Schienenfahrzeugbauer im Vorjahr ein Orderplus von reichlich 50 % auf 11,7 Mrd. Euro (davon 6,1 Mrd. aus dem Ausland), legte die Nachfrage nach Infrastrukturausrüstungen nur leicht auf 3,2 Mrd. Euro zu – wobei die inländischen Aufträge bei 1,7 Mrd. stagnierten. Kein Wunder, dass Ex-Verbandschef Clausecker von einer “eklatanten Unterfinanzierung” des Bestandsnetzes spricht und jährlich mindestens 3,5 Mrd. Euro an Staatsgeldern für den Erhalt des Schienennetzes fordert statt der momentanen 2,7 Mrd. Euro. Ähnlich den Vorstellungen von Bahn-Chef Rüdiger Grube (vgl. BZ vom 27. März) plädiert der Bombardier-Statthalter für den Verzicht des Bundes auf eine Bahn-Dividende. Diese soll stattdessen vollständig als Baukostenzuschuss in die Infrastruktur reinvestiert werden.Zugleich mahnt Pörner mehr Geld für den Schienenpersonennahverkehr an. Zwar seien S-Bahnen und Regionalzüge heute besser genutzt denn je, doch verteuerten sich Trassenentgelte und Strompreise deutlich schneller, als die Regionalisierungsmittel des Bundes von aktuell 7,3 Mrd. Euro angehoben würden. Damit stehen in Zukunft immer weniger Mittel zur Aufrechterhaltung des heutigen Fahrplans und für neue Züge zur Verfügung.