Unternehmen haben keine Lust auf Datenexperimente

Wachsendes Interesse an der Auswertung von Daten als Reaktion auf Wettbewerb - Wissenschaftler sieht in Big Data die Chance auf eine "zweite Aufklärung"

Unternehmen haben keine Lust auf Datenexperimente

Deutsche Firmen stützen ihre Entscheidungen immer öfter auf ausgefeilte Datenanalysen. Häufig tun sie das allerdings erst dann, wenn ihr Geschäftsmodell bereits unter Druck geraten ist. Big Data verändert aber nicht nur für die Arbeitgeber das Wettbewerbsumfeld, sondern auch für Arbeitnehmer.Von Stefan Paravicini, FrankfurtImmer mehr Unternehmen setzen auch in Deutschland auf die Analyse von Daten und erkennen in entsprechenden Auswertungen einen Baustein für die eigene Wertschöpfung. Die Firmen reagieren dabei häufig auf steigenden Wettbewerbsdruck von neuen Konkurrenten und ihren datengetriebenen Geschäftsmodellen. Die aktive Lust am Experimentieren mit Daten und der gezielte Einsatz von Analysen als Teil der Geschäftsstrategie sind kaum verbreitet, wie eine Befragung der Rechnungsprüfungs- und Beratungsgesellschaft KPMG von rund 700 Unternehmen in Deutschland zusammen mit Bitkom Research ergeben hat. Ein Drittel hat eine Strategie”Was im deutschen Markt passiert, ist vor allem reaktiv motiviert”, fasst KPMG-Partner Thomas Erwin die Erhebung zusammen. “Wir sehen nicht, dass deutsche Unternehmen hier Vorreiter sind, sondern reagieren, wo sie angegriffen werden”, sagt er über den Umgang mit Big Data. Insgesamt verfüge denn auch nur etwa ein Drittel der Unternehmen über eine eigene Strategie für den Umgang mit großen strukturierten und unstrukturierten Datenmengen im Sinne von Big Data. Dabei hätten sich fast alle befragten Firmen mit dem Thema beschäftigt und nur etwa jedes zehnte Unternehmen sei dabei zu dem Schluss gekommen, dass Big Data für das eigene Geschäft keine Rolle spiele.”Datenanalysen sind nicht irgendein Technologietrend, sondern eine Querschnittstechnologie, die in immer mehr Branchen zur Anwendung kommt”, sagt Axel Pols, Geschäftsführer von Bitkom Research. Mit der Verfügbarkeit von Daten wachse in den Unternehmen auch das Interesse an ihrer Auswertung. Allerdings schauten die Unternehmen hierzulande bei der Analyse bislang vornehmlich in den Rückspiegel.Fast die Hälfte der Befragten nutze Auswertungen, die bisherige Zustände einordnen. Analysen über künftige Entwicklungen werden demnach immerhin von zwei Fünfteln der Firmen eingesetzt. Noch einmal so viele Unternehmen planten oder diskutierten den Einsatz von vorausschauenden Analysen. Präskriptive Analysen – die Königsdisziplin unter den Möglichkeiten zur Auswertung von Daten, mit deren Hilfe direkte Handlungsempfehlungen abgeleitet werden – setzen 15 % der befragten Unternehmen ein.Fortgeschrittene Analysen von Daten unterschiedlichster Herkunft und Struktur – Big Data im engeren Sinne – werden insgesamt von 13 % der Unternehmen zur freien Suche von Erkenntnissen eingesetzt, wobei die Medienbranche und die Automobilindustrie – zwei Branchen, die den Druck von datengetriebenen Geschäftsmodellen schon länger und mit rasant steigender Wucht zu spüren bekommen – vorn weggehen (siehe Grafik). Als Hemmnis für den Einsatz von Big-Data-Analysen wird von der Hälfte der Unternehmen die fehlende Rechtsgrundlage genannt. Ähnlich viele Entscheider haben demnach Bedenken mit Blick auf Datensicherheit und Datenschutz.”Man kann vieles machen, ohne in Datenschutzprobleme zu laufen”, sagt dagegen KPMG-Partner Erwin. Persönliche Daten, für die ein hoher Schutz gilt, seien oft gar nicht die entscheidende Zutat. “Daten vermischen, ausprobieren, das ist der Schlüssel zum Erfolg”, rät der Experte. “Einfach mal machen, das kann man gar nicht genug betonen.” Denn anders als in der Vergangenheit hätten Unternehmen in der datengetriebenen Wirtschaft keine Zeit mehr für monatelange Innovationsphasen.In einigen Branchen scheint die Erkenntnis der Berater schon angekommen zu sein. “Bei RWE haben wir früher fünf Jahre geplant, fünf Jahre gebaut und dann 50 Jahre die Anlage betrieben”, sagte RWE-Chef Peter Terium in der vergangenen Woche bei einer Veranstaltung der European School for Management and Technolgoy (ESMT) in Berlin zu den Herausforderungen von Big Data. In einer datengetriebenen Wirtschaft gelte die Formel 5-5-50 immer noch, statt von Jahren müsse man aber in Wochen oder Tagen rechnen.Auch Siemens-Vorstand Siegfried Russwurm mahnte einen Mentalitätswechsel an. Eine veränderte Haltung sei schon deshalb nötig, weil die Verfügbarkeit von Daten und die Möglichkeiten zu ihrer Auswertung Produktverbesserung auf dem Weg des Experimentierens ermöglichten, die der typisch deutschen Herangehensweise mit den perfektionistischen Maßstäben des Ingenieurs überlegen sei. Frank Mattern, ehemals Deutschlandchef und heute Head of Global Recruiting für McKinsey, sieht ebenfalls die Notwendigkeit für einen Kulturwandel, um den Übergang von erfahrungsbasierten Entscheidungen hin zu datengestützten Entscheidungen zu meistern.Der Übergang könnte sich lohnen, denn Big Data ist mehr als einfach nur “mehr Daten”, glaubt man Viktor Mayer-Schönberger, der in Oxford über Regulierung und Governance im Internet nachdenkt. Mit Big Data sei eine neue Qualität an Einsichten verbunden, die zu besseren Entscheidungen führe. “Insofern ist Big Data nichts weniger als eine zweite Aufklärung”, sagte Mayer-Schönberger an der ESMT. Die Hälfte verliert den JobDas Publikum klärte er in Berlin darüber auf, dass jeder Zweite damit rechnen müsse, in einer datengetriebenen Wirtschaft seinen Arbeitsplatz zu verlieren. “Sie werden beschäftigt sein, aber nur noch die Hälfte der Zeit dafür aufwenden müssen”, versuchte Peter Terium einen positiven Spin. Jeder, der bei der Arbeit strikten Regeln folge, könne von Algorithmen ersetzt werden, sagte McKinsey-Mann Mattern, ohne sich allerdings auf das Szenario von Mayer-Schönberger einzulassen.”Die gute Nachricht ist, dass Gesellschaften die Fähigkeiten haben, sich neuen Situationen anzupassen”, sagte Siemens-Vorstand Russwurm. Allerdings bedeute die neue Geschwindigkeit, mit der Innovationen auch den Arbeitsalltag veränderten, dass das lebenslange Lernen vom Slogan zum Imperativ werde. “Es reicht nicht mehr aus, einmal auf den Bus zu springen.” Das gilt sinngemäß wohl auch für Unternehmen.