"Unternehmen sollten Steuerbescheide durch Einspruch offenhalten"
– Frau Bär, das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit seinem Beschluss vom 29. März 2017 die Regelung zum Verlustabzug bzw. -untergang bei Kapitalgesellschaften für verfassungswidrig erklärt. Frau Dr. Bär, was hat es damit auf sich?Mit dem Beschluss haben die Verfassungsrichter einer Kernregelung zur deutschen Unternehmensbesteuerung deutliche Schranken gesetzt. Kapitalgesellschaften können Verluste in bestimmten Grenzen von ihren Gewinnen der vergangenen und der folgenden Jahre abziehen. Davon macht § 8c Absatz 1 Satz 1 KStG eine Ausnahme. Werden innerhalb von fünf Jahren mehr als 25 und bis zu 50 % der Anteile einer Kapitalgesellschaft übertragen, gehen die Verluste anteilig unter. Dasselbe gilt für Zinsüberhänge, die unter die Zinsschranke fallen und steuerrechtlich wie Verluste vorgetragen werden können, und für nicht ausgeschöpftes Ebitda-Volumen.- Bis Ende 2018 muss der Gesetzgeber das Körperschaftsteuergesetz (KStG) nachbessern – sonst drohen empfindliche Steuerausfälle. Warum sollten Unternehmen heute schon handeln?Ob und in welcher Form sich der Gesetzgeber für eine rückwirkende Regelung entscheidet, ist derzeit noch unklar. Kommt er der Verpflichtung des BVerfG nicht rechtzeitig nach, tritt rückwirkend zum 1. Januar 2008 die Nichtigkeit des § 8c KStG ein, das heißt die Regelung zur Beschränkung der Verlustnutzung fällt weg. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Steuerbescheide für die betreffenden Jahre automatisch geändert würden. Betroffene Unternehmen sollten in jedem Fall die mit Ablauf der Einspruchsfrist eintretende, endgültige Bestandskraft entsprechender Bescheide unbedingt vermeiden.- Wie konkret funktioniert das?Ist es bei Unternehmen seit dem 1. Januar 2008 zu einem Verlustuntergang aufgrund einer Übertragung von über 25 % der Anteile gekommen, muss geprüft werden, ob entsprechende Bescheide noch abänderbar sind. Auch Bescheide mit Zins- und Ebitda-Vorträgen sollten einbezogen werden.- Welche Folgen hat das für entsprechende Steuerbescheide?Steuerbescheide sind nicht nur änderbar, solange die Einspruchsfrist noch läuft. Wurden sie mit einem Vorläufigkeitsvermerk oder einem Vorbehalt der Nachprüfung versehen, sind sie auch nach Ablauf der Einspruchsfrist in gewissen Grenzen änderbar. Bei Bescheiden, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehen, ist ein Einspruch nicht erforderlich. Allerdings darf dieser Vorbehalt nicht aufgrund Ablaufs der Festsetzungsfrist entfallen. Bei Bescheiden mit einem Vorläufigkeitsvermerk wird die Steuerfestsetzung ebenfalls offengehalten. Ein Einspruch ist also nicht nötig. Die Festsetzungsfrist und die Änderungsmöglichkeiten enden dann erst zwei Jahre nach Veröffentlichung des Beschlusses des BVerfG. Andere Bescheide sollten durch Einspruch offengehalten werden, in Kombination mit einem Antrag auf Ruhen des Verfahrens.- Und was ist bei älteren Bescheiden zu beachten?Bescheide für die Veranlagungszeiträume 2008 bis 2011 dürften in vielen Fällen bereits bestandskräftig und die entsprechenden Steuerfestsetzungen teilweise auch schon verjährt sein. Für derartige Bescheide hat der Beschluss keine Auswirkungen. Die Steuerfestsetzungen könnten ohnehin nicht mehr korrigiert werden. Das gilt auch, wenn die Bescheide unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sind. Anders ist es bei solchen Bescheiden, die mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen wurden. Hier endet die Festsetzungsfrist erst zwei Jahre nach Veröffentlichung des Beschlusses. Diese Frist sollten betroffene Unternehmen im Auge behalten. In der Praxis dürfte dieser Fall jedoch kaum vorkommen.- Und was gibt es zusätzlich zu beachten?Das Gesetz versagt bei einer Anteilsübertragung von über 50 % die weitere Nutzung des Verlustvortrags sogar vollständig. Die Richter haben ausdrücklich offengelassen, ob diese Regelung mit der Verfassung im Einklang steht. Unternehmen sollten entsprechende Steuerbescheide ebenfalls vorsichtshalber durch Einspruch offenhalten, in Kombination mit einem Antrag auf Ruhen des Verfahrens. Eine rückwirkende Neuregelung durch den Gesetzgeber ist auch hier denkbar.—-Dr. Ulrike Bär ist Rechtsanwältin und Counsel von Osborne Clarke. Die Fragen stellte Walther Becker.