SERIE: DER AUTONOME TRUCK (8 UND SCHLUSS), INTERVIEW MIT VDA-PRÄSIDENT BERNHARD MATTES

VDA erwartet größere Nutzfahrzeugvielfalt

Elektromobilität ist "prädestiniert für die urbane Logistik" - Prozentual zweistelliges Wachstum im US-Markt für schwere Lkw erwartet

VDA erwartet größere Nutzfahrzeugvielfalt

Während sich in der Autoindustrie der Streit um Fahrverbote, Dieselnachrüstungen und Käuferentschädigungen weiter zuspitzt, ist die Nutzfahrzeugbranche vor der IAA in Hannover positiv gestimmt. Herausforderungen gibt es aber auch für Truck-Hersteller einige, wie VDA-Präsident Bernhard Mattes befindet.- Herr Mattes, als vor zwei Jahren die IAA Nutzfahrzeuge vor der Tür stand, war die Stimmung in der Branche im Keller. Was folgte, war ein Boom. Nun ist die Stimmung spitze. Zu Recht?Wir haben einerseits wichtige Nutzfahrzeugmärkte, die im bisherigen Jahresverlauf ordentlich zugelegt haben – die USA, China, Westeuropa. Brasilien weist, nach Jahren der Krise, starke Wachstumsraten auf; ähnlich hoch sind sie in Indien. Auf der anderen Seite stehen aber Entwicklungen wie der wachsende Protektionismus, der sich dem freien Handel entgegenstellt. Beim Brexit zeigen sich schon erste Auswirkungen – die Nachfrage in Großbritannien lässt bereits nach. Und über allem steht die Herausforderung der Transformation der Automobilindustrie durch Digitalisierung, Vernetzung und automatisiertes Fahren, die sowohl Pkw- als auch Nutzfahrzeughersteller und -zulieferer betrifft. Unter dem Strich überwiegen aus meiner Sicht aber die Chancen die Risiken.- Gilt das auch für die Entwicklungen im globalen Handel?Wir alle, Politik und Industrie, sind gefordert, um den freien und fairen Welthandel aufrechtzuerhalten. Daran hängt unser Wohlstand. Denn die Wertschöpfungsketten unserer Branche sind global aufgestellt und basieren auf einem entsprechend freien Handel.- Ganz einfach scheint das nicht. Ein Vorstoß Europas, Zölle im Autohandel mit den USA abzuschaffen, ist geblockt worden. Wissen Sie überhaupt, was die amerikanische Seite will?Die Vorstellungen im Handelsbereich, die wir aus den USA vernehmen, sind derzeit tatsächlich divergierend. Da gibt es noch kein klares Bild. Momentan laufen die Fachgespräche in der Executive Working Group, die die EU und die USA eingerichtet haben. Dabei geht nicht nur um Zölle, sondern auch um nichttarifäre Handelshemmnisse.- Betrifft die Nutzfahrzeugbranche die Nafta-Neuregelung auch?Ob Pkw oder Lkw – beide haben eine internationale Wertschöpfungskette. Natürlich werden auch beim Nutzfahrzeug viele Teile über den Atlantik geliefert – übrigens in beide Richtungen. Zollschranken beeinträchtigen daher auch das Nutzfahrzeuggeschäft. Vom Grundsatz her ist es sicher widersprüchlich, ein Freihandelsabkommen mit Regeln dazu zu überfrachten, in welchem Land ein bestimmter Wertschöpfungsanteil des Fahrzeugs hergestellt werden muss. Wenn dafür jedes einzelne Teil überprüft werden muss, wäre das ein riesiger bürokratischer Aufwand.- Gerade in Nordamerika wurden die Nutzfahrzeughersteller vergangenes Jahr von einem unerwartet kräftigen Boom überrascht. Rechnen Sie damit, dass dieser sich fortsetzen wird?Die hohe Nutzfahrzeugnachfrage in den USA ist derzeit klar konjunkturell bedingt, die US-Wirtschaft hat im zweiten Quartal noch einmal kräftig zugelegt. Wirtschaftswachstum heißt immer auch: mehr Transport. Viele Branchen, die Logistik benötigen – wie etwa der Online-Handel -, sind in den USA gut unterwegs, das treibt natürlich auch den Fahrzeugabsatz. Im bisherigen Jahresverlauf ist der US-Markt für schwere Lkw um 18 % gestiegen, für das Gesamtjahr erwarten wir ein Plus von 10 % – da zeichnet sich ein starkes Nutzfahrzeugjahr ab.- Neben den konjunkturellen Faktoren: Inwiefern treibt die technologische Entwicklung die Nachfrage in den USA?Aus unserer Sicht wird die Nachfrage primär von der Käuferseite und deren Anforderungen getrieben. Die Bedeutung von On-Demand-Lieferung nimmt rasant zu und damit die Anforderung an die Schnelligkeit der Lieferkette. Auf der anderen Seite sind die USA als Markt prädestiniert für neue Technologien wie Platooning – also das vernetzte Fahren mehrerer Trucks im Konvoi. Denn in den Vereinigten Staaten führen große Teile des Transportweges über die Interstate Highways – mit einer weniger komplexen Verkehrssituation als in Städten. Vernetzung und Digitalisierung sind daher sicher deutlich einfacher umzusetzen als im urbanen Raum.- Das gilt aber natürlich nicht nur für die USA?Richtig, das sehen wir natürlich auch in Deutschland. Testfeld ist hier die Autobahn. Da läuft es mit der Digitalisierung bereits ordentlich. Die Platooning-Praxistests haben ergeben, dass sich dadurch 10 % Kraftstoff und CO2-Emission einsparen lassen. Wir gehen davon aus, dass das automatisierte und vernetzte Fahren zuerst auf der Autobahn starten wird – da gibt es keinen Quer- oder Gegenverkehr. Bis das in Städten in großem Maßstab umgesetzt werden kann, wird es noch dauern.- Gut läuft auch die Europäische Konjunktur. Wie sieht es im Truck-Geschäft aus?Der westeuropäische Markt für schwere Nutzfahrzeuge über 6 Tonnen läuft gut, er ist im bisherigen Jahresverlauf um 2 % gestiegen. Für das Gesamtjahr 2018 bin ich zuversichtlich, Westeuropa bleibt auf hohem Niveau. Auch bei den leichten Nutzfahrzeugen bis 6 Tonnen ist Musik drin – Beispiel Deutschland: Hier hat die Nachfrage nach Transportern um 5 % zugelegt. Die einzige wirkliche Schwäche in Westeuropa ist derzeit das Vereinigte Königreich, wegen des Brexits.- Ein anderer großer Markt ist China. Hier spielen ausländische Hersteller bislang kaum eine Rolle. Ist es realistisch, dass sich das mit den jüngsten Infrastrukturoffensiven dort ändern kann?Ich sehe in China durchaus Interesse an internationaler Technologie. Gerade wenn es um automatisiertes und vernetztes Fahren und die technologische Weiterentwicklung der Nutzfahrzeuge geht, zeigt sich die chinesische Seite in den Gesprächen, die wir führen, stets sehr interessiert. Da geht es um Themen wie Fußgängererkennung, Verkehrsteilnehmerwahrnehmung und andere Sicherheitsfragen. Angesichts der technologischen Fortschritte in Sachen Vernetzung und Digitalisierung sehe ich dafür gerade auch in China Chancen. Damit erschließen sich dort auch für deutsche Hersteller und Zulieferer neue Möglichkeiten.- Im Pkw-Geschäft beginnen chinesische Firmen wie Geely damit, internationale Märkte zu erschließen. Wie sieht es im Nutzfahrzeuggeschäft aus?Der chinesische Markt für schwere Nutzfahrzeuge ist im bisherigen Jahresverlauf um 8 % auf 858 000 Fahrzeuge gestiegen. Damit ist er etwa doppelt so groß wie Europa und die USA zusammen. Es ist schon eine enorme Aufgabe, diese Nachfrage zu bedienen. Wir gehen davon aus, dass sich chinesische Hersteller, wenn sie im Nutzfahrzeugbereich expandieren, zunächst überwiegend auf den asiatischen Raum und afrikanische Länder konzentrieren werden. Erst danach dürften sie sich den europäischen Raum ansehen – denn hier ist der Wettbewerb am schärfsten, es ist der anspruchsvollste Markt. In all den Jahrzehnten hat sich die deutsche Automobilindustrie stets dem rauen Wind des internationalen Wettbewerbs gestellt, sie hat die Herausforderungen angenommen, hat massiv investiert und entwickelt – und sich damit technologisch im Premiumbereich positioniert.- Derzeit sind die hiesigen Nutzfahrzeuggrößen eher mit sich selbst befasst. VW und Daimler geben ihren Nutzfahrzeugsparten gesellschaftsrechtlich mehr Autonomie. Wie werten Sie das?Zu einzelnen Konzernentscheidungen äußert sich der VDA ja nicht. Aber grundsätzlich betrachtet, bieten solche neuen Strukturen erhebliche Chancen: Es geht vor allem darum, die Kräfte zu bündeln, flexibler, schneller, fokussierter zu werden – immer mit Blick auf die Transformation der gesamten Branche, ausgelöst durch die Digitalisierung. Zudem sind eigenständige Divisionen offener für Kooperationen und Partnerschaften.- Kostenersparnisse sprechen dafür, dass automatisiertes Fahren schneller zum Lkw als zum Pkw kommt. Was kann man diesbezüglich auf der IAA erwarten?Die IAA-Besucher werden in Hannover dazu sehr viele Beispiele sehen – bei Herstellern und Zulieferern. Das ist ja das zentrale Innovationsthema dieser Messe. Das reicht vom Abbiege-Assistenten über Monitore und Kameras, die große Außenspiegel ersetzen, bis hin zur Realtime-Verfolgung ganzer Logistikprozesse. Kurz: Diese Technologien machen den Verkehr sicherer und effizienter, es gibt weniger Leerfahrten. Der Fahrer wird entlastet und in seinen Aufgaben aufgewertet.- Bei der Elektrifizierung scheinen die Vorzeichen umgekehrt, und der Pkw kommt schneller voran?Auch hierzu lohnt der Besuch der IAA: Denn dort stehen erstmals zahlreiche Transporter mit Elektroantrieb, die jetzt in die Serienproduktion gehen und bestellt werden können. Diese Fahrzeuge sind prädestiniert für die urbane Logistik, für die “letzte Meile”: Sie liefern die online bestellten Güter dem Kunden bis zur Haustür – mit CO2-freiem Antrieb, geringsten Emissionen und einem “Flüsterantrieb”. Die Reichweiten mit einer Batterieladung umfassen rund 200 Kilometer, das reicht für die Stadt. Hinzu kommen E-Busse, die von immer mehr Städten geordert werden. Auch der Verteiler-Lkw bis 26 Tonnen wird elektrifiziert.- Die Elektrifizierung der Nutzfahrzeuge in der Stadt ist bislang aber die Ausnahme. Noch dominiert der Diesel. Bleiben Nutzfahrzeuge derzeit nur von Fahrverboten verschont, weil alle auf den Pkw schauen?Wir haben immer betont, dass eine kluge Strategie für “Saubere Luft in der Stadt” natürlich alle Verkehrsträger mit einbeziehen muss – dazu zählen neben Pkw und Nutzfahrzeugen auch Taxen, Busse sowie die Hafen- und Binnenschifffahrt. Keine Frage: Der Anteil von E-Transportern wird in den kommenden Jahren kräftig steigen. Allerdings sollte bei Maßnahmen zur Luftqualität immer auch die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.- Was meinen Sie damit?Die Belieferung der Menschen mit Waren und Diensten innerhalb der Stadt muss weiterhin gewährleistet sein. Dafür sind moderne Nutzfahrzeuge unerlässlich, unabhängig von der Antriebsart.- Da Sie von der Belieferung der Städte sprechen: Der Online-Handel hat den Einzelhandel und die Logistik verändert. Verändert er auch die Nutzfahrzeugbranche?Ich bin überzeugt, dass wir in der Logistikkette in Zukunft eine noch größere Vielfalt an Fahrzeugen sehen werden als bisher – vom schweren Fernverkehrssattelzug bis hin zum City-Kleinsttransporter. Schon heute sind beispielsweise Lastenfahrräder im Einsatz, das gab es vor wenigen Jahren so noch nicht. Die Elektromobilität wird als Antriebsart die urbane Logistik dominieren.- Dafür braucht es Stromtankstellen. Eine machbare Infrastrukturherausforderung?Das Nutzfahrzeug hat natürlich eine größere Batterie als ein Pkw. Deshalb müssen die Ladestationen hochleistungsfähig sein. Zudem brauchen wir intelligente Verteilnetze, die darauf reagieren, wenn es punktuell eine starke Nachfrage gibt, damit im Nachbarhaus das Licht nicht ausgeht. Aber diese technischen Fragen sind lösbar.- Noch dominiert in der Stadt der Diesel. Bei den Debatten um Emissionsstandards scheint der VDA in Abwehrkämpfe verstrickt. Müssten Sie nicht versuchen, wieder eine aktivere Rolle zu finden?Wir haben uns stets für realitätsnähere EU-Normen ausgesprochen. Wir haben aktiv daran mitgearbeitet, dass der neue Abgas- und Verbrauchsprüfzyklus WLTP kommt. Wir haben auch intensiv am Straßentest RDE (Real Driving Emissions) mitgearbeitet, weil er die Schadstoffemissionen nicht nur “im Labor”, sondern auch im tatsächlichen Straßenverkehr misst. Das schafft mehr Transparenz und Klarheit für den Kunden. Wir wenden uns allerdings dagegen, wenn in einem politisch motivierten Überbietungswettbewerb unrealistisch hohe CO2-Reduktionsziele in die Debatte geworfen werden. Wir brauchen eine Balance zwischen Ökonomie und Ökologie.- Welche Bedeutung kommt bei der Zielerreichung den Zulieferern zu?Ob es um CO2, Verbrauch, Luftqualität, Sicherheit oder Effizienz geht – in all diesen Feldern kommt den Zulieferern eine zentrale Rolle zu. Denn sie haben den höchsten Wertschöpfungsanteil am Fahrzeug. Die Zusammenarbeit von Herstellern und Zulieferern ist gerade in der Entwicklung von Fahrerassistenz- und aktiven Sicherheitssystemen immer enger geworden. Software, Sensorik und IT sind längst integraler Bestandteil jeder Zuliefererleistung. Ich sehe auch in Zukunft viele Chancen für Zulieferer, hier wesentliche Innovationsbeiträge zu liefern. Denken Sie nur an das “Intelligent Corner Module”, das Schaeffler vor kurzem vorgestellt hat: Es wird in allen vier Rädern verbaut und umfasst den elektrischen Radnabenmotor, die Radaufhängung inklusive Federung und den Aktor für die elektromechanische Lenkung. Die Lenkung des Radmoduls ist als elektromechanisches Steer-by-Wire-System ausgeführt. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Wir sehen: Die Rolle der Zulieferer wird durch die technologische Transformation weiter gestärkt.- Sogenannte “dumme” Teile kann sich ein Zulieferer nicht mehr leisten?Auch im “analogen Zeitalter” war der Schlüssel zum Erfolg die Langzeitqualität des Produkts – in all seinen Teilen. Mit Digitalisierung und Vernetzung werden diese Komponenten nun intelligent, Stichwort: vorausschauende Wartung. Bei einem anderen Verkehrsträger hat jemand unlängst gesagt, es müsse gelingen, dass die Schiene meldet, wenn ein Baum auf ihr liegt, und man dies nicht erst dann merkt, wenn ein Kontrollfahrzeug auf der Strecke den umgestürzten Baum sieht. Beim Nutzfahrzeug ist dieses vorausschauende Fahren heute schon Realität: Der Fahrer wird rechtzeitig informiert, wenn sein Truck zum Service muss – und durch die Vernetzung erhält er “realtime” alle Informationen über mögliche Verkehrsprobleme.—-Das Interview führte Sebastian Schmid.Zuletzt erschienen:- “Die Wachstumsraten sind enorm” (14.9.)- Zulieferer gestalten die Zukunft von Nutzfahrzeugen (13.9.)- Chinas Lkw-Bauer schwimmen auf einer Erfolgswelle (12.9)