WAS BLEIBT VON "MADE IN GERMANY"?

Verfahrene Messverfahren

Industrie und Politik ringen um die Bedingungen beim Übergang zu realistischeren Abgastests

Verfahrene Messverfahren

Von Ulli Gericke, Berlin, und Detlef Fechtner, BrüsselDieser Streit wird Europas Unternehmen und politische Gremien wohl noch eine ganze Zeit lang auf Trab halten: Im Zuge von Volkswagens “Dieselgate” sind längst nicht nur die getürkten Daten des Wolfsburger Autobauers unter Beobachtung geraten, sondern die Prüfverfahren insgesamt. Und zwar sowohl bei der regelmäßigen Hauptuntersuchung des Autos (landläufig TÜV genannt) als auch vor allem beim Zulassungsverfahren neu entwickelter Autos.Das seit Jahrzehnten angewandte Messverfahren – Neuer Europäischer Fahrzyklus (NEFZ) – ist schon lange krank, weil manipulationsanfällig und unter wirklichkeitsfremden Bedingungen erhoben. Die damit ermittelten Zahlen sind so überholt, dass Autotester inzwischen neben dem vom Hersteller angegebenen Normverbrauch den selbst gemessenen Spritverbrauch bei ihren Testfahrten mitteilen – mit teils absurden Widersprüchen. Selbst korrekt ermittelte Abgasdaten geraten bei diesen enormen Differenzen beim Autokäufer unter Verdacht. Bedingungen fern der PraxisDabei spiegeln die Zahlen nur den Unterschied zwischen Theorie und Praxis. In der Praxis gibt man manchmal kräftig Gas, bremst, überholt, fährt mal schnell oder steht im Stau. Bei der Zulassung hingegen, bei der auch die Verbrauchsangaben und die Abgaswerte ermittelt werden, rollt das abgespeckte Auto – keine Klimaanlage, kein Radio, keine Sitzheizung, nichts, was den Verbrauch treiben könnte – auf einen Prüfstand und wird dort streng genormt “bewegt”. Mit einem Durchschnittstempo von 34 km/h, ohne unterschiedliche Landschaftstopografien. Ganze zehn Sekunden lang wird auch mal – ganz vorsichtig und bedächtig – auf 120 km/h beschleunigt – mit der Realität auf unseren Straßen hat dies alles nichts zu tun.Entsprechend lächerlich niedrig sind der gemessene Spritverbrauch und, damit zusammenhängend, der Ausstoß des klimaschädlichen Kohlendioxids (CO2) – und beim Diesel der gesundheitsschädlichen Stickoxide (NOx). Konsens besteht inzwischen darüber, das alte NEFZ-Verfahren durch den mit einer Höchstgeschwindigkeit von 131 km/h zumindest etwas realitätsnäheren Prüfstandstandard WLTP (Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedures) zu ersetzen, kombiniert mit dem RDE-Test, mit dem Real Driving Emissions ermittelt werden sollen. Mit diesen Alltagsfahrten sollen auch Manipulationen ausgeschlossen werden.Soweit herrscht Einigkeit zwischen Politik und Autobauern. Streit – auch innerhalb von Parteien und Parlamenten – gibt es aber bei der Umrechnung. Wie viel mehr NOx oder CO2 darf ein Auto durch den Auspuff jagen, wenn nicht mehr nach alten, sondern neuen Standards getestet wird? Die nationalen Regierungen haben der EU-Kommission die Erlaubnis abgetrotzt, erhebliche Überschreitungen der für Labortests geltenden Obergrenzen akzeptieren zu dürfen. Dieses Entgegenkommen gegenüber den Autobauern fanden die Umweltpolitiker im EU-Parlament jedoch viel zu großzügig – und stimmten dagegen (siehe Box). Spannend wird es nun Mitte Januar, wenn der Abgastest-Vorschlag dem gesamten EU-Parlament zur Abstimmung vorgelegt wird. Dieses Ergebnis ist letztlich entscheidend – und völlig offen, trotz des deutlichen Resultats im Umweltausschuss. Und genau diese Auseinandersetzung dürfte sich in einigen Monaten noch einmal wiederholen.Statt um NOx geht es dann um CO2. Denn auch hier müssen bisherige Labor-Grenzwerte an die künftigen Standards angepasst werden. Bis dato lautet die Brüsseler Vorgabe, die 2008 durchschnittlich noch erlaubten 165 Gramm CO2 je Kilometer auf 135 g/km im Jahr 2014 und 95 g/km 2021 zurückzufahren. Auf dem Prüfstand im Softfahrmodus ohne Extragewicht mit übermäßig aufgepumpten Reifen (damit der Laufwiderstand geringer wird) wurde die letztjährige Zielzahl erreicht. Doch wie viel gibt es künftig für realitätsnähere Fahrbedingungen drauf? Industrie braucht den DieselZumal bei dieser zentralen Vorgabe, mit der Brüssel einen gewichtigen Beitrag gegen die Klimaerwärmung leisten will, der Diesel um die Ecke schnurrt. Denn ein Selbstzünder verbraucht rund ein Fünftel weniger Sprit als ein Benziner. Wegen der höheren Energiedichte liegt der CO2-Ausstoß dann zwar nur gut ein Zehntel unter der eines Benzinmotors. Insgesamt jedoch zeigen sich gravierende Auswirkungen je nach Zusammensetzung. Nach Berechnungen des Verbands der Automobilindustrie (VDA) hätten die 2014 neu zugelassenen Autos hierzulande nur 125,3 g/km CO2 im Schnitt emittiert, wenn alle Neuwagen Selbstzünder gewesen wären, statt der tatsächlichen 132,1 g/km. Hätten alle einen Benziner unter der Motorhaube gehabt, wäre der NOx-Ausstoß zwar um ein Vielfaches geringer gewesen. An CO2 wären jedoch 138,4 g/km in die Umgebungsluft abgegeben worden, gut 13 % mehr als bei einer ausschließlichen Dieselflotte. Diese Zahl zeigt, dass die Industrie ohne den Selbstzünder keine Chance hat, das ehrgeizige 95-Gramm-Ziel – oder wie viel auch immer nach Anpassung an den neuen Prüfzyklus – zu erreichen, womit Strafzahlungen in Millionenhöhe drohen. Und das ist dann auch die gravierendste Folge des VW-Skandals – und zwar für die gesamte Autobranche: dass der Diesel in Verruf geraten ist.