Verlust der technologischen Führerschaft droht

Feri-Volkswirtin malt düsteres Bild von der Zukunft der deutschen Autoindustrie

Verlust der technologischen Führerschaft droht

md Frankfurt – Das Wachstum der deutschen Wirtschaft verliert an Dynamik. Im dritten Quartal könnte die Wirtschaftsleistung zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren negativ ausfallen. Besonders kritisch sei die Lage in der Automobilindustrie, meint Dagmar Kirsten, Senior Economist von Feri Trust. Von Juli bis September sank die Autoproduktion um etwa 7 % im Vergleich zum zweiten Quartal. Vordergründig liege das an Problemen mit dem neuen EU-weiten Abgastest. So waren die Autoverkäufe nach Inkrafttreten des Testverfahrens WLTP (Worldwide Harmonized Light Vehicles Test Procedure) im September um fast 170 000 Einheiten eingebrochen, weil viele Hersteller auf den neuen Standard zur Bestimmung der Abgasemissionen (Schadstoff- und CO2-Emissionen) und des Kraftstoff- bzw. Stromverbrauchs von Kraftfahrzeugen offenkundig nicht vorbereitet waren. Im Oktober zeigte sich zwar erwartungsgemäß eine Erholung. Doch laut Kirsten liegen die Probleme tiefer.Auf der jährlichen Tagung des Vermögensverwalters – Feri ist eine 100-prozentige Tochter der börsennotierten MLP – malte die Volkswirtin ein düsteres Bild von der Zukunft der deutschen Vorzeigebranche, die gemessen am Exportvolumen des verarbeitenden Gewerbes Spitzenreiter vor Maschinenbau, Chemie und Elektronik ist. Kirsten begründete ihren Pessimismus vor allem mit dem fehlenden neuen Wachstumstreiber auf internationaler Ebene sowie dem drohenden Verlust der technologischen Führerschaft deutschen Autobauer. Boom in China ist zu Ende Das globale Wachstum der Neuzulassungen seit der Jahrtausendwende sei weitgehend auf die sprunghaft gestiegene Nachfrage in China zurückzuführen, erklärte Kirsten. Doch der Boom im Reich der Mitte sei zu Ende, wie die Zahlen seit 2017 belegten. Bis 2025 sagt Kirsten nur noch eine stabile bis leicht zunehmende Zahl an Neuzulassungen in China voraus, weil neben der sich abzeichnenden Marktsättigung die zunehmenden Verkehrs- und Umweltprobleme wachsende Eingriffe der politischen Führung erwarten lassen, die den Absatz tendenziell dämpfen werden.Die Neuzulassungen in den USA und der EU bewegten sich 2018 in etwa auf dem Niveau von 2000; dies zeige, so Kirsten, dass der zweit- und drittgrößte Automarkt gesättigt sei. Was die deutsche – aber wohl auch die internationale – Autoindustrie nach Ansicht der Feri-Volkswirtin schwer belasten wird, ist das Fehlen eines neuen Wachstumstreibers. Indien, ein Land mit ähnlich hoher Bevölkerungszahl wie China, aber weit geringerer Fahrzeugdichte, sei keine realistische Hoffnung. Auf dem Subkontinent sei die Zahl der Neuzulassungen seit 2000 nur bescheiden gewachsen – und dieses gemächliche Tempo dürfte beibehalten werden.Kurz- bis mittelfristig belaste in Deutschland zudem der Diesel-Skandal, so dass im laufenden Jahr die Fahrzeugproduktion der Stückzahl nach um mehr als 3 % unter dem Vorjahreswert liegen werde. 2019 sei mit einem weiteren Minus von etwa 1,5 % zu rechnen.Gravierend sei der drohende Verlust der technologischen Führerschaft für die deutsche Autoindustrie. Die Umstellung vom Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb und autonomes Fahren/Connectivity sowie die damit zusammenhängende Verschiebung der Kernkompetenz im Autobau von Motor und Antriebsstrang hin zur Leistungsstärke von Batterien, zu Software und möglicherweise völlig neuen Geschäftsmodellen, in denen nicht mehr das Fahrzeug, sondern die Mobilitätsdienstleistung im Zentrum steht, sei “keine inkrementelle, sondern eine tiefgreifende Veränderung”, so Kirsten. Bisher habe der Anteil des Verbrennungsmotors an der Wertschöpfung beim Autobau bei 25 bis 33 % gelegen. Diesen hohen Anteil werde künftig die Software haben – bei Mittelklassewagen bis zu 30 %, im Premiumsegment bis zu 40 %; heute liege der Anteil erst bei 10 %. Kirsten zog eine Parallele zur Smartphone-Branche: “Samsung baut die Hardware, aber den Gewinn macht Google durch das Betriebssystem.” “Reine Blechbieger” Für die Zukunft des Autobaus heiße dies: Die hohe Bedeutung der “deutschen Ingenieurskunst” werde durch Fähigkeiten zum Datenhandling und zur Programmierung abgelöst. Um die Dramatik des Wandels zu unterstreichen, zitierte Kirsten John Krafcik, den CEO der Alphabet-Tochter Waymo, der die klassischen Autobauer bereits zu “reinen Blechbiegern” degradiert sieht. Waymo entwickelt Technologien für autonome Fahrzeuge. Die Abschwächung in der deutschen Autoindustrie werde sich auf andere Sektoren auswirken, die an die Fahrzeugbranche liefern oder für sie Leistungen erbringen, sagte Kirsten, etwa Gießereien (Anteil 2014: 39 %), Gummi- und Kunststoffproduzenten sowie Kfz-Handel und Werkstätten (je 15 %).