VW muss Dieselhaltern Schadenersatz zahlen
Gut viereinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Abgasmanipulationen bei weltweit 11 Millionen Dieselautos steht fest: VW muss Kunden in Deutschland nach einem höchstrichterlichen Urteil Schadenersatz zahlen. Auf den Autobauer könnte eine Milliardenlast zukommen. Anleger zeigen sich aber gefasst. ste Hamburg – Volkswagen muss Käufern von Dieselfahrzeugen mit unzulässiger Abschalteinrichtung nach dem ersten Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) zur Dieselabgasaffäre Schadenersatz zahlen. Das Verhalten der Beklagten sei als sittenwidrig zu bezeichnen, begründete der Vorsitzende Richter des 6. Zivilsenats am BGH, Stephan Seiters, die Entscheidung mehr als viereinhalb Jahre nach Bekanntwerden der Abgasmanipulationen. Käufer können auf Basis des höchstrichterlichen Urteils ihr Fahrzeug zurückgeben und von dem Autobauer den Kaufpreis teilweise – unter Anrechnung der gefahrenen Kilometer – zurückerhalten (Az. VI ZR 252/19).Volkswagen habe auf Grundlage einer für den Konzern getroffenen grundlegenden Entscheidung bei der Motorenentwicklung “im eigenen Kosten- und Gewinninteresse durch bewusste Täuschung” des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) gehandelt, so der BGH. Das Unternehmen habe systematisch und langwierig Fahrzeuge mit Dieselmotoren der Baureihe EA 189 in siebenstelliger Stückzahl deutschlandweit in den Verkehr gebracht, deren Motorsteuerungssoftware bewusst für die Täuschung programmiert gewesen sei.Der Kläger sei, veranlasst durch das einer arglistigen Täuschung gleichstehende sittenwidrige Verhalten der Beklagten, eine ungewollte vertragliche Verpflichtung eingegangen. Darin liege sein Schaden, weil er ein Fahrzeug erhalten habe, das für seine Zwecke nicht voll brauchbar war. Das Problem sei auch durch ein späteres Software-Update des Dieselmotors nicht gelöst worden.Im vorliegenden Fall hatte der Besitzer eines VW Sharan 2.0 TDI, der das Fahrzeug im Januar 2014 als Gebrauchtwagen zu einem Preis von 31 490 Euro von einem freien Händler erwarb, mit einer Klage die Rückerstattung des Kaufpreises nebst Zinsen verlangt. Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz hatte dem Kläger im Juni 2019 eine Entschädigung von gut 25 600 Euro nebst Zinsen gegen Fahrzeugrückgabe zuerkannt. Das höchste deutsche Zivilgericht bestätigte insofern diese Entscheidung.Die für den Fall verantwortliche Anwaltskanzlei Goldenstein & Partner, die nach eigenen Angaben insgesamt rund 21 000 Mandanten in der Abgasaffäre von Volkswagen vertritt, erklärte, das Urteil bedeute Rechtssicherheit für Millionen Verbraucher in Deutschland. Es zeige “einmal mehr, dass auch ein großer Konzern nicht über dem Gesetz steht”. Die Entscheidung werde auch für manipulierte Pkw anderer Fahrzeughersteller eine Signalwirkung haben, da nahezu alle Autobauer illegale Abschalteinrichtungen in ihren Dieselfahrzeugen integriert hätten.Die Rechtsauffassung des höchsten deutschen Zivilgerichts ist eine Richtschnur für noch anhängige Klageverfahren vor Land- und Oberlandesgerichten in Deutschland. Laut dem Autobauer gibt es in Deutschland noch 60 000 Klagen, mit denen Dieselbesitzer Schadenersatzzahlungen durchsetzen wollen. Im Zuge der außergerichtlichen Vereinbarung im Verfahren der Ende April zurückgezogenen Musterfeststellungsklage des Verbraucherzentrale Bundesverbands (VZBV) gegen VW seien 240 000 Vergleiche “positiv geprüft” worden. Der Konzern zahlt für Entschädigungen je nach Modelltyp und Modelljahr zwischen 1 350 und 6 257 Euro je vergleichsberechtigtem Dieselhalter – insgesamt rund 750 Mill. Euro. Die Entschädigungssumme ohne Rücknahme des Autos beträgt im Schnitt 14,9 % des Kaufpreises.Nun erklärten die Wolfsburger, das BGH-Urteil sei “ein Schlusspunkt”. Es schaffe für einen Großteil der derzeit anhängigen 60 000 Klagen Klarheit darüber, wie der BGH die wesentlichen Grundfragen in den Dieselverfahren beurteilt. VW will diese Verfahren im Einvernehmen mit den Klägern “zeitnah” beenden und den Besitzern manipulierter Dieselautos eine Einmalzahlung anbieten, um die Justiz schnellstmöglich zu entlasten. Das sei eine pragmatische und einfache Lösung, teilte VW mit. Die Höhe der Zahlungen hänge vom Einzelfall ab. Anlass für neue Klagen sieht der Konzern kaum. Grund dafür seien die hohe Annahmequote für die Vergleiche im Musterfeststellungsverfahren und die Verjährung von Ansprüchen, die nicht zur Musterfeststellungsklage angemeldet wurden.Anleger reagierten gefasst auf das Urteil aus Karlsruhe: Der Kurs der VW-Vorzugsaktie legte um 0,9 % auf 133,96 Euro zu. Der BGH hatte ein verbraucherfreundliches Urteil in der mündlichen Verhandlung Anfang Mai bereits angedeutet. Das Urteil sei gekommen wie erwartet, so der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer vom Center Automotive Research in Duisburg. Für VW handele es sich um “ein Urteil, mit dem man leben kann”. Einzelklagen dürften sich in Grenzen halten. Allerdings deckt das Urteil nicht alle Fragen ab – etwa die Frage der Verjährung, der Deliktzinsen oder ob ein Anspruch bei einem Kauf nach September 2015 besteht. Insbesondere letzte Fallgruppe mache mit rund 10 000 eine hohe Zahl an den anhängigen Verfahren aus, so VW.Für den Autobauer belaufen sich die Belastungen im Zuge der Abgasaffäre auf mehr als 31 Mrd. Euro. Die Mittelabflüsse im Konzernbereich Automobile betrugen bis Ende März insgesamt fast 27 Mrd. Euro.