GastbeitragDekarbonisierung

Warum die Dekarbonisierung in Deutschland mehr Farbenblindheit braucht

Bereits jetzt ist in Deutschland ein Verteilungskampf um grünen Wasserstoff entbrannt, obwohl die Erzeugung noch gar nicht begonnen hat. Eine öffentliche Diskussion über die „richtigen“ Standorte für Elektrolyseure ist bereits in vollem Gange.

Warum die Dekarbonisierung in Deutschland mehr Farbenblindheit braucht

Farbenblindheit hilft beim Wasserstoff

Von Dr. Thomas Glimpel und Dr. Klaus Grellmann

Aktuell wird die Nationale Wasserstoff-Strategie (NWS) überarbeitet. Hiernach soll Deutschland bis 2030 zu einem führenden Anbieter für Wasserstofftechnologien werden und mit deren Hilfe bis 2045 klimaneutral arbeiten.

Bislang ist hier bis auf erste zaghafte Ansätze jedoch zu wenig geschehen, um den sehr ambitionierten Zielen näher zu kommen. Neben industriellen Leuchtturmprojekten legt die Bundesregierung hohes Augenmerk auf die Anbahnung internationaler Kooperationen zum Import von grünem Wasserstoff. Die für Kooperationen ins Auge gefassten Regionen bieten gute Voraussetzungen für den Ausbau von Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien und den Betrieb von Elektrolyseuren. Ein genauerer Blick auf die aktuelle Stromerzeugung in diesen Regionen zeigt allerdings, dass dort vor dem Bau von Elektrolyseuren noch in hohem Maße konventionelle Kraftwerke ersetzt werden müssen, damit nicht zusätzlicher Elektrolyse-Strombedarf die dortige Dekarbonisierung verzögert.

Bereits jetzt ist in Deutschland ein Verteilungskampf um grünen Wasserstoff entbrannt, obwohl die Erzeugung noch gar nicht begonnen hat. Eine öffentliche Diskussion über die „richtigen“ Standorte für Elektrolyseure ist bereits in vollem Gange. Industrielle Nachfrager nach grünem Wasserstoff aus Süddeutschland argumentieren gegen eine bevorzugte Ansiedlung von Elektrolyseuren im Norden Deutschlands, also dort, wo Windstrom am ehesten ohne Beeinträchtigung durch knappe Transportwege zur Verfügung steht. Der sogenannte „systemdienliche“ Einsatz von Elektrolyseuren, der deren Betrieb mit Blick auf eine Minderung von übermäßiger Netzbelastung und Netzausbau-Erfordernissen optimiert, wird von manchen Industrievertretern kritisch gesehen: Die Energieinfrastruktur habe der Industrie zu dienen und nicht andersherum.

Ganz grundsätzlich ist sich die Bundesregierung uneinig in der Frage, ob dem Markt oder dem Staat beim Hochlauf des Wasserstoffmarktes Vorrang zu geben ist. All diese Interessenkonflikte und Diskussionen lassen befürchten, dass die nationalen Ausbaupläne sowohl im Umfang als auch von der Geschwindigkeit nicht ausreichen werden, um die ambitionierten Ziele zu erreichen.

Importe alternativlos

Wasserstoffimporte werden so oder so alternativlos sein, schon wegen der begrenzten Verfügbarkeit von Grünstrom in Europa. Aber: Keine Volkswirtschaft der Erde hat derzeit „überschüssige grüne Energie“, die es an Deutschland verkaufen könnte, ohne die eigene CO2 Bilanz zu belasten (Beispiel Kanada) oder Wohlstandsverluste durch fehlende lokale Stromversorgung (Namibia) in Kauf nehmen zu müssen. Die weltweiten CO2-Reduktionsziele werden also bestenfalls regional verschoben. Es bedarf daher einer weltweit gesamthaften Bewertung der Klimawirksamkeit von Maßnahmen.

Zwingend ist deshalb ebenfalls, dass wir neben „grünem“ Wasserstoff auch andere Farben zulassen. Vorzugsweise könnte das der als türkis bezeichnete Wasserstoff aus Pyrolyse von Erdgas sein, bei dessen Herstellung fester Kohlenstoff als vermarktbarer Wert- und Rohstoff anfällt. Die Kosten dürften gegenüber der CO2-Abscheidung und -Einlagerung, also dem Prozess der Herstellung von „blauem Wasserstoff“ aus Erdgas, geringer sein. Insbesondere für süddeutsche Betriebe, die auf klimaneutralen Wasserstoff angewiesen sind, erwächst aus dieser Technologie eine vergleichsweise kostengünstige und schnell verfügbare Alternative – bei Nutzung vorhandener Transport-Infrastruktur. Auch „roter“ Wasserstoff aus Elektrolyse mit Hilfe von Kernenergiestrom kann zumindest in manchen europäischen Ländern helfen.

Priorität für grün

Richtigerweise gibt die Bundesregierung der Schaffung eines Marktes für grünen Wasserstoff politische Priorität, gerade mit Blick auf industrielle Anwendungen. Wegen der begrenzten Verfügbarkeiten folgt hieraus aber zwangsläufig erstens, dass es kaum grünen Wasserstoff im Wärmemarkt geben kann. Zweitens wird der zukünftige Strommarkt erhebliche Mengen Wasserstoff als Speicherenergie für die gewollte Klimaneutralität brauchen. Nur so können die bei einem Hochlauf der erneuerbaren Energien resultierenden Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage ausgeglichen und die Netzstabilität gewährleistet werden. Dem Bundeswirtschaftsministerium ist hoch anzurechnen, dass es mit der Überarbeitung der NWS-Strategie hierauf ein besonderes Augenmerk legt. Berechnungen zeigen, dass bei Erreichung der Ausbauziele bei den Erneuerbaren bis zum Jahr 2045 eine wasserstofftaugliche Stromerzeugungskapazität von etwa 100 GW vorhanden sein muss, um eine importunabhängige Versorgungssicherheit bei Strom zu gewährleisten. Schon das ist ambitioniert.

Zusätzlich braucht Deutschland bis 2045 eine Elektrolyse-Leistung von etwa 200 Gigawatt, die unabhängig von der installierten Kapazität elektrochemischer Speicher vorhanden sein muss. Dieser Aspekt wird derzeit deutlich unterschätzt. Deutlich realistischer erscheint deshalb, neben der Fokussierung auf grünen Wasserstoff von vorneherein auch andere Wasserstoffarten als realistische Alternative verstärkt ins Auge zu fassen. Nur mit diesem Pragmatismus beim Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft wird die industrielle Transformation gelingen – ansonsten droht der knappe Wasserstoff ausschließlich für die Absicherung der Stromerzeugung zur Verfügung zu stehen. Die Industrie wäre dann gekniffen.

Klaus Grellmann, Managing Director bei Goetzpartners, mitverantwortlich für das Management-Consulting-Geschäft mit Fokus auf die Energiebranche und verwandte Industrien.

Thomas Glimpel ist freiberuflich tätig als energiewirtschaftlicher Management-Consultant. Er blickt auf eine jahrzehntelange Erfahrung in der Energiebranche zurück.