Wechselvolle Siemens-Geschichten
Von Michael Flämig, MünchenSiemens steht vor der größten Desinvestition ihrer Geschichte. Das komplette Geschäft mit der Energieerzeugung soll im kommenden Jahr an die Börse geführt werden. Vorstandsvorsitzender Joe Kaeser hat das Ziel des Umbaus, der in der “Vision 2020+” niedergelegt ist, bereits im Mai so formuliert: “Wir möchten jedes Geschäft an die Weltspitze bringen.” Damit zielt er zuvorderst auf die verbleibenden Aktivitäten. Doch was passiert mit den Unternehmen, die in neue Hände übergehen? Die Siemens-Historie der Unternehmensverkäufe zeigt, dass die Ex-Konzerneinheiten meist eine wechselvolle Geschichte hinter sich haben.Dabei ist die Leitlinie des Konzerns klar: Einen Imageschaden wie nach dem Verkauf ihrer Handy-Sparte wollen die Münchner um jeden Preis vermeiden. Mitte des vergangenen Jahrzehnts ging die deutsche Tochter des taiwanischen Käufers BenQ pleite, Tausende Beschäftigte schauten in die Röhre. Ein Negativbeispiel, denn eigentlich sollte auch für die verkauften Teile gelten, was Goldman Sachs für Konglomerate ermittelt hat: Je weniger Sparten, umso höher die Fähigkeit, das Kapital so einzusetzen, dass hohe Mittelzuflüsse generiert werden (siehe Grafik).In der Realität allerdings ist dies schwer nachzuweisen. Erstens hat Siemens häufig kriselnde Aktivitäten verkauft, so dass hohe Renditen auch nach der Desinvestition unwahrscheinlich waren. Zweitens wurden die Randgeschäfte oftmals irgendwo eingegliedert, so dass nach der Integration die Geschäftsentwicklung kaum mehr nachzuvollziehen ist.An die Weltspitze in relevanten Märkten haben es die verkauften Siemens-Sparten nur selten geschafft. Eine Ausnahme zeichnet sich im Geschäft mit Hörgeräten ab. Siemens Audiologie ging im Jahr 2015 an den Finanzinvestor EQT und fusionierte im vergangenen Jahr unter dem Namen Sivantos mit dem familiengeführten Wettbewerber Widex. Die neue Firma WS Audiology gehört zu den Top 3 in der Hörgeräte-Branche. In den Dax oder nach ChinaEinen Namen gemacht in der Öffentlichkeit hat sich vor allem der Infineon-Konzern, weil er im Blue-Chip-Index Dax 30 notiert ist. Siemens hatte sich im Jahr 2000 im Rahmen des 10-Punkte-Programms von ihrer Halbleiter-Sparte getrennt. Ein Jahr zuvor wurde die Sparte “Elektromechanische Komponenten” von Tyco übernommen, die sich 2007 aufspaltete. Die Sparte “Passive Bauelemente und Röhren” ging 1999 an die Börse. Unter dem Namen Epcos schaffte es das Unternehmen zeitweise ebenfalls in den Dax-30-Kreis. TDK kaufte das Unternehmen 2009, heute ist Epcos nur eine Marke im Reich der Japaner.Die nächste Siemens-Verkaufswelle riss die Daten- und Kommunikationstechnik aus dem Konzern heraus. Der Bereich Communications (Com), der im Geschäftsjahr 1999/2000 noch 27 % des Siemens-Umsatzes erwirtschaftete, wurde zerlegt. Erst scheiterte BenQ mit dem Handy-Geschäft von Siemens. 2007 führte Siemens die Mobilfunk-Netze Siemens Networks in das Gemeinschaftsunternehmen Nokia Siemens Networks und musste erleben, wie wenig ein Minderheitsaktionär zu sagen hat. Siemens verkaufte ihren Anteil sechs Jahre später an den Partner – Nokia ist bis heute auf keinen grünen Zweig mehr gekommen.Noch wilder ging es beim Com-Geschäft mit Betreibernetzen und Unternehmenskunden zu. 2008 wurde Enterprise Networks an den US-Finanzinvestor Gores verkauft, diese Unify genannte Einheit übernahm im Jahr 2013 der IT-Dienstleister Atos, der zuvor schon Siemens IT Solutions and Services erworben hatte. Der Unify-Gesamtbetriebsrat klagte 2014, man habe allein zwischen 2008 und 2013 vier Restrukturierungen mit Arbeitsplatzabbau erlebt.Wenig Fortune hatte das Telefongeschäft, das als Siemens Home and Office Communication Devices 2008 an den Finanzinvestor Arques ging und heute als Gigaset börsennotiert ist. 2009 wanderte die 50-Prozent-Beteiligung an Fujitsu Siemens Computers an den Partner Fujitsu, der 2018 das Werk am Standort Augsburg schloss.Welche Wirrungen auf einen Verkauf folgen können, zeigt die Trennung vom Geschäftszweig Wireless Modules Business 2008: Es kauften Investoren unter der Führung der Private-Equity-Gesellschaft Granville Baird, die in Cinterion umbenannte Gesellschaft ging 2010 an den niederländischen Chip-Spezialisten Gemalto, dieser 2019 an den Pariser Rüstungskonzern Thales.Ein weiteres Beispiel für zahlreiche Eigentümerwechsel: Siemens übernahm den Anlagenbauer Dematic aus dem Mannesmann-Imperium, gab ihn 2006 an den Finanzinvestor Triton, der ihn 2012 an den Finanzinvestor AEA Investors und an Teachers` Private Capital verkaufte, die ihn 2016 an den Gabelstaplerhersteller Kion weiterreichten, der nun einen 45-Prozent-Großaktionär aus China (Weichai Power) hat. In Fernost (Chemchina) ist mittlerweile auch der Spezialmaschinenbauer KraussMaffei aus diesem Portfolio gelandet, nachdem KKR an den kanadischen Finanzinvestor Onex verkauft hatte.Allein in den vergangenen zehn Jahren hat Siemens 17 größere Unternehmen verkauft, hinzu kommen Spin-offs, teils samt IPO wie Siemens Healthineers, Siemens Gamesa und Osram. Der Lichtkonzern muss sich aktuell gegen Kaufinteressenten wehren. Bei den Desinvestitionen sticht der 50-Prozent-Anteil an Bosch Siemens Hausgeräte heraus, der Bosch 3 Mrd. Euro kostete. Schon 2007 war Siemens VDO Automotive für 11,4 Mrd. Euro an Continental gegangen.