"Weil ich die Deutschen so gern mag"
Herr Jewtuschenkow, im Jahr 2006 wollten Sie bei der Deutschen Telekom einsteigen, dann bei Infineon. Beide Vorhaben scheiterten. Nun haben Sie die Real-Supermärkte gekauft. Warum versuchen Sie es immer wieder in Deutschland?Vielleicht weil ich die Deutschen so gern mag. Wir sind ein in Moskau und London notiertes Unternehmen mit einem breiten Portfolio. Da ist es selbstverständlich, dass wir auch international wie in Deutschland immer wieder Investitionsmöglichkeiten prüfen. Aber lassen Sie uns konkreter werden: Warum brauchen Sie Real?Wir haben ein Team, das sich im deutschen Immobilienmarkt hervorragend auskennt. Vor einigen Jahren haben wir begonnen, dort zu investieren, und eine ordentliche Rendite erzielt. Auf dieser Expertise haben wir bei Real aufgebaut. Von 276 Supermärkten werden 140 verkauft und 30 geschlossen. Es gibt Befürchtungen, dass bis zu 10 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren könnten.Um den konkreten Prozess und die genaue Ausgestaltung kümmert sich unser Team in Deutschland, da sie viel näher am Geschehen sind. Deshalb möchte ich mich dazu nicht im Detail äußern. Aber was machen Sie mit den restlichen 100 Supermärkten?Wir haben einen klaren Plan, den unser Team konsequent umsetzt. Bitte haben Sie aber Verständnis, dass es für Details noch zu früh ist. 2015 haben Sie begonnen, in deutsche Immobilien zu investieren. Verfolgen Sie die Strategie, dieses Portfolio zu erweitern?Ja. Es erweitert sich automatisch. Und es besteht ein Plan, unser deutsches Portfolio zu erweitern. Während Sie in Russland mit dem drittgrößten Onlinehändler Ozon stark expandieren, verkaufen Sie das Onlinegeschäft von Real.de in Deutschland. Warum?Weil wir uns zuerst auf Russland konzentrieren. Hier hat sich das Onlinegeschäft durch die Corona-Pandemie extrem beschleunigt. Ozon wächst mit mehr als 200 % pro Monat. Eine entsprechende Beschleunigung findet aber auch in Deutschland statt. Wenn Sie mit Ozon doch ins Ausland expandieren, ziehen Sie dann die Nachbarländer oder Westeuropa in Betracht?Das ist erst noch zu entscheiden, aber es ist kein Geheimnis, dass in Westeuropa Deutschland jenes Land ist, das wir aus diversen Gründen am höchsten achten. Fürs Erste aber konzentrieren wir uns auf den Binnenmarkt und nächstes Jahr auf den möglichen Börsengang. Derzeit wird über mögliche neue Teilhaber diskutiert. Vor einem halben Jahr traf sich Ozon-CEO Alexander Schulgin mit Amazon-Chef Jeff Bezos, weil dieser Interesse an Ozon zeigte. Verhandeln Sie?Nein. Wir wollten mit der japanischen Softbank und mit Amazon kooperieren, aber bei den Bedingungen kamen wir nicht zueinander. Außerdem: Wenn ein Unternehmen sich gerade stark entwickelt, sollte man es nicht in ausländische Hände geben. Der Internethandel ist eine sehr sensible Angelegenheit. Aber eine ausländische Beteiligung schadet ja nicht.Da haben Sie absolut Recht. Werden die Verhandlungen fortgesetzt?Derzeit nicht. Mal ehrlich, hätte der Kreml einer solchen Beteiligung überhaupt zugestimmt?Nun, das Unternehmen ist nicht so groß, dass es strategische Interessen des Staates berührt. Erst bei einer riesigen Marktmacht wird man einen solchen Schritt wohl mit dem Staat abstimmen müssen. Schon heute will die größte russische Bank, die staatliche Sberbank, eine Drittelbeteiligung bei Ozon erwirken, wie kolportiert wird. Verhandeln Sie bereits?Ja. Sind Sie schon nah am Abschluss?Verhandlungen können in jedem Moment platzen. Eine falsche Bewegung, und es ist vorbei. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Sberbank beteiligt, ist groß. Und das beunruhigt Sie nicht? Vor einigen Jahren mussten Sie Ihren Ölkonzern Baschneft an den Staat abtreten. Und nun verhält sich die Sberbank seit einiger Zeit im Bereich der Internetökonomie wie ein Krake, der alles frisst. Es scheint, dass sich der Staat nun auch in diesem Sektor breitmacht.Das denke ich überhaupt nicht, es geht hier nicht um Öl und Gas, sondern um einen jungen Sektor. Und da können wir selbst wählen, mit wem wir kooperieren wollen. Zur Sberbank: Erstens haben wir mit ihr bereits viele gemeinsame Projekte, die erfolgreich sind. Zweitens würde sie bei Ozon keine dominante Rolle haben. Und drittens ist Sberbank eine Verfechterin der Marktwirtschaft und will den Börsengang so wie wir. Ich sehe daher keine großen Risiken. Sie haben geschäftlich mit gut 20 Ländern zu tun. Welche kommen Ihres Erachtens am besten mit den jetzigen Herausforderungen zurecht?Bevölkerungsreiche Länder, die sich langsam entwickelt haben. China hat großes Potenzial, Indien ebenso. Es geht ja auch um riesige technologische Herausforderungen generell. Und da zählt die Größe des Landes – oder man bündelt die Kräfte zu Multiplikatoren. Hätten wir ein goldenes Zeitalter, in dem Russland und Deutschland ihr Potenzial in Sachen Technologie verbinden würden, hätte das einen gewaltigen Effekt. Denn selbst das so fortschrittliche Deutschland wird die weitaus einwohnerstärkeren USA technologisch im Alleingang nie überholen. Je mehr intellektuelles Potenzial sich zusammentut, umso mehr wird Geld für Innovationen freigemacht und umso größer der Effekt. In gewisser Weise passiert das ja gerade bei Forschungsallianzen für die Suche nach einem Corona-Impfstoff.Schauen Sie, wer einen baldigen Impfstoff angekündigt hat: die USA, China, Russland und England. Hier sieht man akkumuliertes intellektuelles Potenzial. Hier in Russland müssen wir dankbar sein für das frühere Bildungssystem in der UdSSR: Denn das unterschwellige Verständnis dafür, dass man technologische Entwicklung forcieren muss, hat zu einer starken Grundlagenforschung geführt, auf der alles andere aufbaute. Die Chinesen haben das im Unterschied zu den Japanern rechtzeitig kapiert und eine Grundlagenforschung entwickelt. Sagen Sie damit, dass Russland hier gut mithalten kann?Wie viele andere Länder hat sich auch in Russland hier viel geändert – und bei Weitem nicht zum Guten. Aber noch besteht Hoffnung, die Lücke zu schließen. Tochterfirmen Ihrer Holding produzieren Blitz-Coronatests und forschen auch an einer Impfung. Wann schätzen Sie, dass die Welt eine Corona-Impfung haben wird?Dieses Jahr. Die meisten Experten meinen, frühestens Ende 2021.Ich kann mich natürlich irren. Aber ich bin hier ein großer Optimist. Wie weit sind Sie mit der Entwicklung?Wir sind mittlerweile bei den klinischen Tests. Russland hat nach den USA und Brasilien die meisten Corona-Infektionen. Aber das ist nur eines der großen Probleme. Wirtschaftssanktionen bestehen weiter, der Ölpreis ist eingebrochen. Wie lange hält Russland diese Schläge noch aus?Russland hat in seiner tausendjährigen Geschichte so viel abgekriegt, dass diese Schläge im Vergleich mikroskopisch sind. Aber mit dem Wirtschaftswachstum klappt es schon länger nicht. 2019 mickrige 1,3 %. Und den Prognosen des Internationalen Währungsfonds zufolge wird der Abstand zur globalen Wirtschaftsentwicklung größer statt kleiner. Löst das nicht Alarmglocken aus?Sehr wohl. Und zwar bei allen, die sich um dieses Land sorgen. Wir wissen sehr genau, was wie zu tun wäre. Aber viele äußere Faktoren stören uns dabei. Auch die Sanktionen, zumal sie auf Beschränkungen bei Technologie und beim Zugang zum Kapitalmarkt zielen. Es gibt wohl auch innere Faktoren. Mit der Verfassungsänderung kann Kremlchef Wladimir Putin nun bis 2036 im Amt bleiben. Ist das nicht entmutigend?Warum sollte es das sein? Weil er seit Jahren keinen wirtschaftlichen Aufschwung mehr hinkriegt.Ich denke, es geht am Thema vorbei, wenn wir in diesem Kontext nur von Putin reden. Nie kann ein einzelner Mensch daran schuld sein. Wahrscheinlich sind wir alle zu einem gewissen Grad schuld – das ist das eine. Und das andere ist, dass die Mehrheit eben für seinen Verbleib an der Macht gestimmt hat. Das muss man akzeptieren und für sein Business eben eine entsprechende Strategie ausarbeiten. Ich kann Ihnen sagen, in Russland arbeitet es sich hinsichtlich politischem System, Rechtsstaat oder Geschäftsklima deutlich besser als in vielen anderen Ländern. Ich weiß, dass man das im Westen anders sieht, aber diese Sichtweise entspricht nicht der russischen Realität und ist heillos übertrieben. Würden Sie derzeit zu Investitionen in Russland raten?Es ist jedenfalls nicht gefährlicher als etwa in den USA, Japan oder Indien. Das Interview führte Eduard Steiner.