GRENZEN DES WACHSTUMS

Wie das Kaninchen vor der Schlange

Investitionszurückhaltung, vorsichtige Prognosen und Aktienrückkäufe - Die Unternehmen gehen weltweit verunsichert wie lange nicht ins neue Jahr

Wie das Kaninchen vor der Schlange

Von Sebastian Schmid, FrankfurtDas Selbstbewusstsein der ersten Jahreshälfte ist längst verflogen. Die Verunsicherung in den Führungsetagen vieler Unternehmen ist greifbar. Dabei war die Zuversicht zum Jahresbeginn 2018 bereits eine künstlich erzeugte. Die Steuerreform von US-Präsident Donald Trump hat den US-Unternehmen Hunderte Milliarden Dollar zusätzlich in die Tasche gespült – an Steuerersparnis und über im Ausland liegende Barreserven, die nun steuerschonend in die USA zurückgeholt werden konnten.Allein der erhoffte Investitionsboom ist weitgehend ausgeblieben. Wo hätte sich dieser auch ereignen sollen? In der US-Wirtschaft, die sich als Epizentrum fast aller Handelsbeben erwies, die im abgelaufenen Jahr das weltweite Wirtschaftsgefüge erschüttert haben. Stahlzölle, Autozölle, Nafta-Aufkündigung oder -Neuverhandlung, generelle Zollschranken für chinesische Waren und die Aufkündigung des Pariser Klimaschutzabkommens – jeder dieser Konfliktpunkte für sich betrachtet wirkt kaum bedrohlich. In ihrer Gesamtheit sorgen die Streitzentren, die US-Präsident Trump geschaffen hat, aber wie ein Sedativum für die Investitionslust global orientierter Konzerne. Der “Zoll-Mann” aus dem Weißen Haus hat dafür gesorgt, dass weder eine umfangreiche Investitionsentscheidung für die USA noch für ein anderes Land derzeit risikoarm daherkommt. Lieber wenig RisikoViele US-Unternehmen haben sich 2018 daher bewusst gegen das Risiko entschieden, das sich etwa aus Übernahmen ergibt, und investieren strikt in die sicherste Währung, die sie aus ihrer Warte kennen: die eigene Aktie. Knapp 800 Mrd. Dollar haben im Leitindex S & P 500 vertretene US-Konzerne laut Analysten von Goldman Sachs im vergangenen Jahr in eigene Anteilscheine gesteckt – damit wurde bereits ohne die Dividendenzahlungen von knapp einer halben Billion Dollar im S&P 500 mehr an die Anteilseigner ausgeschüttet, als insgesamt an Kapitalinvestitionen (Capex) vorgenommen wurden (715 Mrd. Dollar). Allein Apple kündigte vergangenen Mai Aktienrückkäufe über 100 Mrd. Dollar an – ein prozentual zweistelliger Anteil der üppigen Marktkapitalisierung.Dabei war Apple keineswegs allein. Auch Technologiefirmen wie Cisco und Oracle haben Rückkaufprogramme für einen prozentual zweistelligen Anteil ihres ausstehenden Kapitals beschlossen. Den Vogel abgeschossen hat der Chipproduzent Qualcomm, der eigene Anteile im Wert von 30 Mrd. Dollar zurückkaufen will, nachdem die NXP-Übernahme am Widerstand Chinas gescheitert ist. Der Fall zeigt auch, dass die Wirtschaftsgefechte zwischen den USA und China auf vielfältige Art Aktienrückkäufe begünstigen.Im neuen Jahr soll die Diskrepanz zwischen Rückkäufen und Investitionen im S&P 500 laut Goldman Sachs nur noch weiter wachsen. Während den Aktienrückkäufen ein Anstieg um mehr als ein Fünftel zugetraut wird, rechnet Goldman beim Capex nur mit einem Anstieg im prozentual einstelligen Bereich. Und diese Prognose ist nun auch schon wieder einige Zeit her, in der sich die Aussichten weltweit eher noch weiter eingetrübt haben.Besonders trüb fällt der Blick in die Kristallkugel für die Automobilbranche aus, die in vielerlei Hinsicht vom Hochziehen neuer Grenzen betroffen ist. Die offensichtliche sind die Handelsschranken. So haben die Autozölle, die China auf Importfahrzeuge aus den USA eingeführt hatte, Hersteller wie Tesla, BMW und Daimler zu Preisanhebungen gezwungen. Von Stahlzöllen war die Branche ebenso betroffen wie von der Nafta-Neuverhandlung und dem Brexit. Zwar sind die Autozölle in China vorerst ausgesetzt, was einige Hersteller sofort zu Preisreduzierungen genutzt haben. Wie es in den Handelsgesprächen zwischen Peking und Washington weitergeht, bleibt dennoch ungewiss.Im Gegensatz zu anderen Branchen kann es sich die Automobilindustrie nicht leisten, erst einmal zuzuwarten. “Aus heutiger Sicht stehen die Chancen vielleicht bei 50:50, dass die deutsche Automobilindustrie in zehn Jahren noch zur Weltspitze gehört”, befand VW-Chef Herbert Diess im Herbst. Frische Anforderungen an die Emissionsverringerung in den kommenden Jahren wurden gerade erst formuliert. Investitionen tun also weltweit not.Die Branche steht vor einem technologischen Wandel mit Elektromobilität, autonomem Fahren und neuen Geschäftsmodellen durch Mobilitätsdienstleistungen. Hier die richtigen Investitionsschwerpunkte zu setzen ist schon per se schwierig. Noch schwieriger wird es, wenn zugleich unsicher ist, ob die Werke, die heute geplant werden, morgen noch die gleichen Ausfuhrbedingungen aufweisen. Denn die lokale Produktion, wie sie Trump mit seiner “America first”-Doktrin vorschwebt, rechnet sich nur selten. Modelle, die in Nordamerika besonders gefragt sind, werden schon heute meist in den USA oder einem angrenzenden Nachbarland der Freihandelszone USMCA (ehemals Nafta) produziert. Weniger gefragte Autos, etwa aus der Kompaktwagenklasse, werden auch künftig kaum ausreichend Amerikaner kaufen, um ein solches Werk zu rechtfertigen. General Motors hat dies dem US-Präsidenten vor dem Jahreswechsel mit mehreren Werksschließungen und umfangreichen Stellenstreichungen erst wieder deutlich gemacht. Die Autobauer werden noch genauer abwägen, welche Modellreihen sie weiter pflegen.Mindestens ebenso abhängig vom Export wie die Automobilindustrie ist der Maschinenbau. Bis zum Jahresende jagte dieser noch von Rekord zu Rekord, doch auch hier häufen sich die Warnzeichen am Horizont. Die Verwundbarkeit ist immens. Mit China, den USA und Großbritannien sind drei der fünf wichtigsten Abnehmerländer mit Unsicherheiten bezüglich ihrer künftigen Handelsbeziehungen behaftet. Ganz andere WeltDie optimistische Annahme, dass Deutschland als Exportnation schon immer seine Abnehmer finden wird, mag zwar lange zugetroffen haben. Allerdings hat sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert und damit auch die deutsche Exportabhängigkeit. Erreichte die Warenausfuhr 1990 nur knapp über 300 Mrd. Euro, war es vergangenes Jahr bereits fast viermal so viel (siehe Grafik). Auf Konzernebene lässt sich bei Siemens verfolgen, was die weltweite Öffnung der Märkte verändert hat. Wurden 1990 noch mehr als drei Viertel der Erlöse in Europa erwirtschaftet, war es zuletzt nur noch knapp die Hälfte.Im Technologiesektor sind Zollschranken derweil weniger bedeutsam. Softwareseitig war das Geschäft schon immer international. Bei SAP stand die Region EMEA (Europa, Nahost und Afrika) bereits 1998 nur für einen Umsatzanteil von 45 % und damit etwa auf Augenhöhe mit Nordamerika. Zwei Jahrzehnte später ist SAP um ein Vielfaches größer, kommt mit 44 % aber auf einen nahezu gleichen Umsatzanteil in EMEA.Auch der Technologiesektor wird indes vom Stimmungswechsel in Sachen Globalisierung erfasst. Neue Grenzen werden etwa bei Übernahmen, aber auch Auftragsvergaben hochgezogen. In den USA spürten dies 2018 vor allem die chinesischen Netzwerkausrüster Huawei und ZTE. Letztere zahlte eine Milliardensumme, um einem mehrjährigen Bann von Geschäften mit US-Konzernen zu entgehen. Bei Huawei versuchen die USA ihren Einfluss sogar über ihre Grenzen hinaus geltend zu machen. Basierend auf einem US-Ersuchen wurde die Finanzchefin in Kanada festgesetzt. In Europa drängen die USA die Telekomgesellschaften dazu, die in den vergangenen Jahren eingegangenen engen Geschäftsbeziehungen mit Huawei zu “überdenken”. Das führt zuweilen zu eigenartigen Reaktionen der Konzernlenker. In der ersten Reaktion wird meist die Unverrückbarkeit der eigenen Position betont – oft nur, um diese Unverrückbarkeit dann selbst in Frage zu stellen. Die Zeiten, in denen die Konzerne die Politik vor sich hertreiben konnten, scheinen vorbei zu sein. Zum Jahreswechsel 2019 sitzt die Unternehmenswelt vor der Politik wie das Kaninchen vor der Schlange.