GASTBEITRAG

Wie Europa attraktiver für Wachstumsfirmen wird

Börsen-Zeitung, 29.12.2020 Als im Herbst 2020 Biontech als erste Firma weltweit einen Durchbruch bei der Erprobung eines Covid-19-Impfstoffes vorzuweisen hatte, war das für die globalen Finanzmärkte ein Anlass für Euphorie. Am deutschen Kapitalmarkt...

Wie Europa attraktiver für Wachstumsfirmen wird

Als im Herbst 2020 Biontech als erste Firma weltweit einen Durchbruch bei der Erprobung eines Covid-19-Impfstoffes vorzuweisen hatte, war das für die globalen Finanzmärkte ein Anlass für Euphorie. Am deutschen Kapitalmarkt sollte der Erfolg der Mainzer aber auch für Nachdenklichkeit gesorgt haben, war das Unternehmen doch wenige Monate zuvor für den Börsengang in die USA abgewandert.Das Biotech-Unternehmen ist nur das jüngste Beispiel auf einer langen Liste von aufstrebenden Firmen, die wir Europäer an die US-Börsen verloren haben. Neben Biontech fällt einem sofort die Tübinger Firma Curevac ein, die ebenfalls mit einem Covid-19-Impfstoff für Aufsehen gesorgt hat und ebenfalls in den Vereinigten Staaten gelistet ist. Ähnlich sieht es in der Schweiz aus, von wo aus Biotech-Unternehmen wie Crispr Therapeutics, AC Immune oder ADC Therapeutics in den vergangenen Jahren für die Börsennotierung den Sprung nach New York gewagt haben.Es gibt sie also durchaus auch in Europa, die potenziellen Wachstumschampions. Doch entweder sie wandern zum Börsengang in die USA ab, oder aber sie bleiben und verpassen den Sprung zu echter Größe – zumindest in globalen Maßstäben. Sie können also offenbar auf dem Kontinent nicht die Investorenbasis finden, um das angestrebte Wachstum zu verwirklichen. Umgekehrt hört man von den großen institutionellen Investoren immer wieder, dass sie nicht unbedingt an die Deutsche Börse oder eine andere europäische Börse denken, wenn sie auf der Suche nach den vielversprechendsten Wachstumsunternehmen sind. Die Folge: Kapital und Unternehmen konzentrieren sich immer mehr in den USA, zunehmend auch in Asien. Hohe Preise für WachstumEs mangelt uns in Deutschland und in Europa insgesamt sicher nicht an Venture Capital. Mutige Frühphasen-Investoren haben wir tatsächlich einige, so dass Gründer durchaus das Kapital vorfinden, um aussichtsreiche Firmen an den Start zu bringen. Woran es fehlt, ist die Bereitschaft der institutionellen Investoren, große Beträge in bereits etablierte Wachstumsfirmen zu stecken, die den nächsten großen Schritt machen wollen.Das liegt vor allem an den hohen Bewertungen, die Wachstumsfirmen heute schon früh erreichen, auch wenn sie noch nicht profitabel sind. Europäische Anleger sind meist nicht bereit, diese hohen Preise für stark wachsende, aber noch defizitäre Firmen zu bezahlen. Während US-Investoren starke Wachstumsaussichten verlangen, erwarten europäische Anleger ein positives Ebitda. Es ist aus Sicht von Wachstumsunternehmen nur rational, sich dorthin zu orientieren, wo sie mit ihren Wachstumsambitionen, die zulasten unmittelbarer Gewinne gehen, eher auf offene Ohren treffen.Um die aussichtsreichen Unternehmen bei uns zu halten, brauchen wir eine risikofreudigere Aktienkultur bei institutionellen Investoren. Eine Aktienkultur, die Wachstum einen angemessenen Preis zugesteht. Auf einen Sinneswandel bei den großen Kapitalsammelstellen zu hoffen, wäre jedoch naiv. Schließlich sind institutionelle Anleger in weiten Teilen auch von einer Regulierung eingeschnürt, die wachstumsorientiertes Investieren nicht eben begünstigt. Weichenstellung notwendigWir brauchen deswegen eine ganzheitliche Strategie, die Wachstumsfirmen stärkt und Kapital für sie mobilisiert. Diese Strategie hat vier Säulen.Erstens müssen die europäischen Regierungen gemeinsam eine weitsichtige Industriepolitik entwickeln und koordiniert umsetzen. Diese Industriepolitik muss die Schlüsselfelder für künftiges Wachstum definieren und strukturell fördern, etwa durch innovationsfreundliche Regulierung. Dabei sollten technologiegetriebene Branchen im Fokus stehen: Biotechnologie, künstliche Intelligenz, Raumfahrt, Green Tech und andere. Die bisherige Förderpolitik kann man wohlwollend als “historisch gewachsen” bezeichnen. Strategisch konzipiert ist sie kaum. Und so trägt sie auch unseren wirtschaftsstrategischen Interessen im globalen Wettbewerb nicht angemessen Rechnung.Neben diesem strukturellen Rahmen braucht es, zweitens, einen europäischen Wachstumsfonds, der aktiv in die vielversprechendsten technologiegetriebenen Wachstumsunternehmen investiert. Während der rechtliche Rahmen und die Anlagerichtlinien politisch erarbeitet und damit demokratisch legitimiert sein müssen, sollte das Fondsmanagement in seinen Entscheidungen vollkommen unabhängig von der jeweiligen Regierung agieren können. Eine Beteiligung von vermögenden Privatpersonen an einem solchen Fonds sollte im Übrigen ebenfalls vorgesehen werden. Viele von ihnen stünden nur zu gern bereit, in die Zukunft unserer Wirtschaft zu investieren.Die dritte Säule ist die Schaffung einer europäischen Technologiebörse, die die besten Technologieunternehmen des europäischen Kontinents zusammenbringt und damit in der Lage ist, Kapital von Wachstumsinvestoren aus aller Welt anzuziehen.Und schließlich, viertens, müssen die regulatorischen Hürden beseitigt werden, die institutionelle Investoren heute davon abhalten, verstärkt in Wachstumsunternehmen zu investieren. Insbesondere müssen die Kapital- und Bilanzierungsvorschriften für Versicherungen und Pensionskassen grundsätzlich aktienfreundlicher werden und es den Investoren erleichtern, vorübergehende Wertverluste “auszuhalten”.Manchmal machen die Debatten in unserer Branche den Anschein, als sei es gottgegeben, dass die USA nun einmal der “place to be” für Wachstumsfirmen sind. Das ist mitnichten der Fall. Viele von ihnen entstehen vor unserer Haustüre. Wir sollten ihnen Gründe geben, hier zu bleiben. Dafür braucht es jetzt strategische Weichenstellungen. Ebrahim Attarzadeh, CEO, Stifel Europe Bank AG