Wien soll jetzt doch ein bisschen wie Chicago werden
Von Stefan Paravicini, zzt. Wien”Wien darf nicht Chicago werden!”, forderte die im politischen Spektrum weit rechts stehende Freiheitliche Partei Österreich (FPÖ) im Wahlkampf zu den Wiener Gemeinderatswahlen im November 1991. Der Bevölkerung der österreichischen Bundeshauptstadt wollten die Freiheitlichen mit ihren Wahlplakaten damals ein bisserl Angst vor steigenden Kriminalitätsraten einjagen. Fast ein Vierteljahrhundert ist seither ins Land gezogen und Wien gilt auch wegen der geringen Kriminalitätsrate als eine der europäischen Metropolen mit der höchsten Lebensqualität. Geht es nach der dynamischen Szene junger Gründer sowie den Strategen für das Standortmarketing, darf Wien aber durchaus ein bisschen mehr wie Chicago werden.Die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten, die in der Start-up- und Venture-Capital-Szene lange als “Flyover City” zwischen New York und San Francisco galt, hat sich mittlerweile zu einem attraktiven Standort für Unternehmensgründer gemausert, der in einschlägigen Hitlisten wie dem “Global Start-up Ecosystem Ranking” von Compass regelmäßig auf den vorderen Plätzen landet. Wien schafft es in diesen Rankings noch nicht unter die Top-Adressen und ist wegen seiner geografischen Lage auch nicht als “Flyover City” für VC-Investoren auf dem Weg von London nach Berlin geeignet. Im Wettbewerb um Gründer und Risikokapital aus dem In- und Ausland sieht sich Wien dennoch gut aufgestellt und kann dabei auf andere Ranglisten verweisen. Leiwand, OidaSo führt die Unternehmensberatung Mercer in ihrer jüngsten Bestenliste zur Lebensqualität in Städten Wien auf Platz 1 vor Zürich und Auckland, während es Berlin auf Platz 14 schafft. Die österreichische Metropole ist halt “leiwand, Oida” (“klasse, Alter”), wie man nicht nur in den Arbeiterbezirken, sondern auch in den von Gründern besonders geschätzten inneren Bezirken Landstraße, Wieden und Margarethen sagt. Die australische Innovationsagentur 2thinknow setzt die Donaumetropole mit Blick auf das Innovationspotenzial auf Platz 6 hinter San Francisco, New York, London, Boston, Paris und sieben Plätze vor Berlin. Die Büromieten in Wien sind nach Angaben der Makler von CB Richard Ellis mit 369 Euro pro Quadratmeter und Jahr höher als in Berlin, liegen aber deutlich unter den meisten anderen europäischen und internationalen Metropolen.Mit 200 000 Studenten – ein Drittel davon büffelt Naturwissenschaften und gut ein Fünftel von ihnen kommt aus dem Ausland – ist Wien laut Statistik außerdem die größte Universitätsstadt im deutschsprachigen Raum und liegt klar vor Berlin mit rund 160 000 Studierenden. Die Bevölkerung ist internationaler als in der deutschen Hauptstadt und hat auch einen höheren Frauenanteil, zitiert das Standortmarketing die einschlägigen Statistiken. Her mit der Marie!In einer anderen Kategorie liegt Wien freilich noch deutlich hinter den führenden Start-up-Metropolen in Europa. Denn während EY in Berlin allein im ersten Halbjahr Risikokapitalinvestitionen mit einem Volumen von knapp 1,4 Mrd. Euro registrierte und es London auf etwas mehr als 1,1 Mrd. Euro brachte, muss die Wirtschaftsagentur Wien hier auf eigene Schätzungen zurückgreifen, die auf der Befragung von Start-ups am Standort basieren. Demnach lagen die Venture-Capital-Investitionen in Wien zuletzt bei jährlich rund 160 Mill. Euro.”Jetzt oder nie, her mit der Marie!”, sang die österreichischen Pop-Band “Erste Allgemeine Verunsicherung” schon im Jahr 1985. Die offiziellen Statistiken zeigen, dass der Standort beim Thema Finanzierung bis heute strukturellen Nachholbedarf hat. Wer den Anteil von VC-Investments am Inlandsprodukt in Deutschland für ungenügend hält, dem müssen in Österreich die Tränen kommen: 0,007 % betrug der Wert nach Angaben der European Private Equity and Venture Capital Association (EVCA) 2014 in der Alpenrepublik, während es Deutschland auf sage und schreibe 0,021 % bringt. Der Durchschnitt in Europa liegt bei 0,024 %, die Schweiz hat mit 0,035 % im deutschsprachigen Raum die Nase vorn. Spitzenreiter auf dem alten Kontinent sind Dänemark und Luxemburg mit 0,076 %. In den USA lag der Wert nach Angaben der OECD im vergangenen Jahr fast beim Vierfachen, Spitzenreiter Israel kommt auf knapp 0,4 %.Dass Österreich hier nicht nur im internationalen Vergleich zurückliegt, sondern auch im deutschsprachigen Raum die rote Laterne trägt, hat nach Einschätzung von Johann Hansmann damit zu tun, dass Vermögen in Österreich häufig in Privatstiftungen geparkt sind, wie der Investor der “Börsen-Zeitung” bei einem Roundtable in Wien sagte. Der Investor, der in Österreich als eine Art Erzengel innerhalb der noch überschaubaren Business-Angels-Szene (siehe Grafik) gilt, hat sein Vermögen in der Pharmaindustrie gemacht und sich mittlerweile an gut zwei Dutzend österreichischen Start-ups beteiligt. In Linz beginnt’sHansmann war auch bei der Fitness-App Runtastic aus Linz engagiert, die Adidas im Sommer zu einer Bewertung von 220 Mill. Euro übernommen hat. Bereits 2013 hatte Axel Springer die Mehrheit an dem Start-up erworben, dessen Erfolgsgeschichte in Wien großzügig dem eigenen “Ökosystem” zugeschlagen wird. Ein Exit in ähnlicher Größenordnung gelang den Investoren der in Wien gegründeten Flohmarkt-App Shpock, an der Hansmann ebenfalls beteiligt war. Der schwedische Medienkonzern Schibsted, der 91 % der Anteile hält, hat den beiden Gründern laut Medienberichten von Anfang September die Hälfte ihrer Anteile von je 9 % zu einer Bewertung von 200 Mill. Euro abgekauft.Exits wie Runtastic und Shpock setzen den Standort auch bei Gründern und Investoren im Ausland auf die Landkarte, ist man in Wien überzeugt. Sogar Peter Thiel, einer der profiliertesten Investoren aus dem Silicon Valley, war Anfang November zu Besuch – allerdings nur, um sich den renommierten Hayek-Preis im ehrwürdigen Palais Liechtenstein abzuholen. Die Veranstalter des Pioneers-Festivals, einer Messe für Start-ups und Investoren, konnten Thiel bisher nicht für einen Kurzaufenthalt gewinnen, sagte Pioneers-Gründer und CEO Andreas Tschas der “Börsen-Zeitung”. Das Festival gilt mittlerweile als eine der wichtigsten Treffpunkte der Gründerszene in Mitteleuropa. Tschas war in den vergangenen Monaten aber auch viel in Asien unterwegs und wird im Frühjahr zusammen mit der Mediengruppe Nikkei in Tokio das “Pioneers Asia” organisieren.Das Pfund, mit dem Wien bislang vor allem wuchern kann, sind die üppigen Fördergelder, die der Staat zur Verfügung stellt. Die österreichische Förderbank AWS – vergleichbar etwa mit der KfW – unterstützt Start-ups schon in der Pre-Seed-Phase mit bis zu 200 000 Euro. Für High-Tech-Gründungen gibt es von der Austria Wirtschaftsservice 800 000 Euro Startkapital. Der AWS Gründerfonds geht bei späteren Finanzierungsrunden mit und verdoppelt schon einmal das von privaten Investoren aufgebrachte Risikokapital.Ein Unternehmen wie Mysugr, die eine App für den Umgang mit Diabetes im Alltag entwickelt hat und mittlerweile neben “Hansi” Hansmann auch den Venture-Fonds von Roche, iSeed Ventures und XL Health zu ihren Investoren zählt, würde es ohne diese Förderungen nicht geben, sagte Mitgründer und Geschäftsführer Frank Westermann der “Börsen-Zeitung”. Wie wichtig die staatlichen Förderungen für den Standort sind, lässt sich auch in der Statistik der EVCA ablesen: 94 % der Investitionen im Bereich Risikokapital wurden in Österreich 2013 demnach mit öffentlichen Geldern bestritten, während es in Europa etwa ein Drittel war. Die Mobilisierung von mehr privatem Risikokapital ist denn auch eines der Ziele, die das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft mit der im Frühjahr vorgestellten Gründerinitiative im Blick hat. Wiener MelangeDass privates Kapital für Start-ups vorhanden ist, hat die Venture-Capital-Gesellschaft Speedinvest bereits unter Beweis gestellt. Der im Frühjahr mit einem Volumen von 58 Mill. Euro geschlossene Fonds Speedinvest 2 hat über den Sommer zusätzliche Mittel eingesammelt. Mehr als 100 private Investoren und Business Angels sind investiert. Speedinvest-Gründer und CEO Oliver Holle peilt im Schnitt Ticketgrößen von 500 000 Euro an, will aber auch Follow-ons bis zu einem Volumen von 3 Mill. Euro stemmen. Ein Teil der Mittel ist für Mikro-Investments reserviert, die das Team von Pioneers um Andreas Tschas auswählt.Zu den Investoren von Pioneers gehört neben Nationalbank-Präsident Claus Raidl auch Johann Hansmann. Man kennt und schätzt sich halt in Wien, und begegnet in der Gründerszene genau wie im Kaffeehaus immer wieder den gleichen Personen. Insofern wird Wien auch nie so ganz wie Chicago werden, obwohl die FPÖ im Wahlkampf vor wenigen Wochen doch tatsächlich vereinzelt den alten Slogan herausgekramt hat und mittlerweile bei 30,8 (1991: 22,5) % angekommen ist.