"Wir erzeugen mehr unternehmerische Freiheit"
– Herr Dr. Thomas, gefährdet ein verschärfter Handelskonflikt zwischen den USA und China die Geschäftsziele von Siemens? Ein Handelskonflikt zwischen diesen beiden Ländern wäre schädlich für die gesamte Weltwirtschaft. Insbesondere im Kapitalgüterumfeld sind weltpolitische Unsicherheitsherde mit potenziellen Zöllen hemmend für das Investitionsklima. – Wie hoch ist die Gefahr einer Eskalation?Die Erfahrung lehrt, dass nicht alles in Taten umgesetzt wird, was einmal angekündigt worden ist. Es ist manchmal gar nicht so leicht, Dinge zu implementieren, die sich mit den berühmten 280 Twitter-Zeichen relativ schnell schreiben lassen. Daher ist meine Hoffnung, dass die Politik die Tragweite großer Entscheidungen gut abwägt. Trotzdem gilt, weil Hoffnung keine Strategie ist: Siemens muss vorbereitet sein – und das sind wir bestmöglich. – Welche Möglichkeiten hat der Konzern? Unternehmen wie Siemens haben den Vorteil, ihre Wertschöpfungsketten nicht an einer Stelle konzentriert zu haben. Durch unser weltweites Fertigungsnetz haben wir Alternativen für die Lieferketten und für die Rücknahme oder Intensivierung von Schwerpunkten der Wertschöpfung.- Zum Beispiel? Siemens Healthineers hat die Möglichkeit, einen Computertomografen aus dem bayerischen Forchheim in die USA zu liefern, anstatt aus China. Das ist eine relativ einfache Lösung. Wir können also Kapazitäten entsprechend lenken, um auf spezifische Nachfragesituationen zu reagieren. Aber man darf nicht naiv sein. Es gibt Entwicklungen in derlei Konflikten, die außerhalb der eigenen Handlungssphäre sind. – Welche Auswirkungen hat Siemens schon zu spüren bekommen? Bisher gab es keine materiellen negativen Einflüsse. Auch durch jene Schritte, die die beiden Staaten bisher angekündigt haben, sehen wir aktuell für Siemens keine materiellen Bedrohungen. Die Sorge für unser Haus ist eher, dass wichtige Kunden in qualitativ hochwertigen Industrien wie der Automobilbranche betroffen sein könnten. Zölle würden dort die eingeschwungenen Logistikketten stören, die mit ausgefeilten Qualitätssicherungsprozessen verbunden sind. – Welche Effekte über die Wirtschaft hinaus sehen Sie? Zölle würden natürlich die Kostenbasis erhöhen, und dies führt zu einer geringeren Nachfrage. Die Frage lautet dann: Wer kann sich ein Konsumprodukt leisten und wer eben nicht mehr? Das hätte Folgeeffekte in politischen Polarisationsszenarien, die wir ja leider bestens kennen. – China ist für die gesamte deutsche Wirtschaft ein Wachstumsmotor. Wie stark würde Siemens leiden, wenn die chinesische Wirtschaft gedämpft würde?Tatsächlich spielt das Land für die Exportnation Deutschland eine wichtige Rolle. Andererseits hat China mit der Seidenstraßen-Initiative einige Projekte auf den Weg gebracht, die das Land vielleicht intensivieren würde, falls der Handelskonflikt eskaliert. Meine Sorge gilt aber weniger der Großindustrie, die sich darauf gegebenenfalls schmerzhaft einstellen müsste, sondern vor allem den mittelständischen Unternehmen. Diese sind manchmal von einzelnen Kunden extrem abhängig, die in einem der beiden Wirtschaftsräume ansässig sind. – Die Vision 2020+ ist nach der Präsentation am Donnerstag an der Börse durchgefallen. Sind Sie enttäuscht?Zunächst muss man feststellen, dass sich die Aktie bereits im Vorfeld recht gut entwickelt hat. Deshalb wäre “Enttäuschung” ein überdimensionierter Begriff für meine Gefühlslage. Es ist natürlich immer so, dass man sich wünscht, dass gute und lange erarbeitete Ideen mit Euphorie aufgenommen werden. Das habe ich aber als eher pragmatischer Mensch nicht erwartet. – Warum?Drei kurze Nachrichten, die völlig unmissverständlich und noch dazu positiv sind, können leicht eine euphorische Reaktion erzeugen. Diese Simplizität können wir aber an dieser Stelle nicht bieten, denn wir sind ein Unternehmen mit einer weit verzweigten globalen Wertschöpfungskette, das in vielen interessanten Märkten tätig ist. Da wäre es illusorisch gewesen zu glauben, dass es eine ganz einfache Möglichkeit gibt, die Dinge noch besser zu machen. Denn die haben wir schon alle abgearbeitet.- Warum überhaupt versucht Siemens gerade jetzt, sich zu verändern?Wir handeln aus einer Position der Stärke heraus. Denn wir haben mit der Vision 2020 viel erreicht. Wir hätten noch eine Weile die Vorteile, die das Konzept mit sich bringt, weiter ausreizen können. Gleichwohl ist es richtig zu sagen, dass man sich um das Hausdach am besten kümmert, wenn das Wetter gut ist und man nicht erst auf den Regen wartet. Das ist auch deshalb wichtig, weil manche Dinge eine gewisse Vorlaufzeit haben, bevor sie in der Implementierung greifen. Insofern bin ich von der Reaktion des Kapitalmarktes auch nicht enttäuscht, sondern fühle mich motiviert herauszufinden, wo möglicherweise Verständnisprobleme liegen. Es ist schließlich ein umfangreiches Programm, das man in zwei Stunden kaum komplett darstellen kann.- Was ist denn der Kern?Wir erzeugen noch mehr unternehmerische Freiheit für unsere Geschäfte, die diese dann aber auch nutzen müssen. Diese Freiheit macht es andererseits unmöglich, eine zentrale Botschaft für die Sparten einheitlich zu kommunizieren. Daher wollen wir im ersten Halbjahr 2019 mit einem umfänglichen Kapitalmarkttag unsere Unternehmen mit ihren spezifischen Vorgehensweisen zu Wort kommen lassen. – Kann die Reaktion der Investoren gespeist sein dadurch, dass die Vision “2020+” den Status quo in eine Struktur gießt, aber ansonsten nur Optionen schafft?Aus meiner Sicht ist es eine Qualität per se, sich Möglichkeitsspielräume zu erschließen. Wie man sie dann nutzt, ist ein weiterer Schritt. Aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ist für jemanden, der so lange wie ich in dem Geschäft ist, ein wahrer Luxus. Ich habe schon häufig gesehen, dass mangels ex ante erschlossener Handlungsspielräume in der Situation die klare Erkenntnis, was zu tun ist, nicht mehr ausreicht, weil man nicht mehr schnell genug das Ruder herumreißen kann. Auch die Siemens-Historie im Telekommunikationsgeschäft hat dies klar gezeigt. – Die Öffentlichkeit würde aber gerne wissen, welche Zukunft des Konzerns dem Management vorschwebt.Es ist manchmal gut, sich nicht zu früh festzulegen, weil man dann Entwicklungen, die sich nicht antizipieren lassen, noch mit einfließen lassen kann. Denn man muss immer gut abwägen, wie sich Rahmenbedingungen verändern, bevor man eine Option umsetzt. Schließlich handelt es sich trotzdem um Entscheidungen, die wir vor dem Hintergrund gewisser Unsicherheiten getroffen haben. Die Erwartung war aber wohl, dass wir mehr sagen, als wir aktuell sagen können. Nur macht mich das kein bisschen nervös, weil die Optionalitäten ja geschaffen werden.- Für die “Vision 2020+” müssen überall in den neuen strategischen und operativen Gesellschaften Konzernfunktionen aufgebaut werden. Ist das Konzept nicht viel zu teuer?Das ist kein Naturgesetz. Das Management der operativen Unternehmen erhält einen gewissen Vertrauensvorschuss. Wir erwarten, dass die Teams für ihr jeweiliges Geschäft das Richtige tun. – Trotzdem kann es teurer werden.Mit der “Vision 2020+” stellen wir die Weichen auf Wachstum. Synergien schaffen kein Wachstum, Fokus hingegen schon. Und das gilt auch in der “Verwaltung”: Viele Vorgänge, die man in der Vergangenheit wegen ihrer Skalierbarkeit gebündelt hat, können heute mit modernen Technologien ohne Kostenmehraufwand so organisiert werden, dass sie dezentral und in geschäftsspezifisch angepasster Weise abgearbeitet werden. Die Frage ist nicht mehr nur: Machen wir es möglichst günstig? Sondern vor allem: Machen wir es richtig? – Healthineers hat bereits erklärt, dass mehr Arbeitsplätze deswegen in Deutschland entstanden, weil Konzernfunktionen installiert werden mussten. Daher nochmals: Wird der Siemens-Wasserkopf in viele kleinere Wasserköpfe zerlegt, die in der Addition noch größer sind als die bisherige Unternehmenszentrale?Siemens Healthineers muss in der juristischen Selbständigkeit gewisse Konzernleitfunktionen aufbauen. Das ist klar. Ich bin überzeugt, dass es dem Managementteam gelingt, nicht ein “Mini-Siemens” zu errichten. Sie werden für ihre Geschäftserfordernisse die richtigen Schwerpunkte wählen. – Künftig sind die Siemens-Sparten für die Betreuung des Geschäfts in den Ländern zuständig. Entsteht dadurch ein gewaltiger neuer Vertriebsapparat? Nein, das ist genau umgekehrt. Wir haben uns die Länder angeschaut und identifiziert, welches der operativen Unternehmen schon die stärkste Repräsentanz hat. Diese Sparte ist dann auch für die Gestaltung des Marktzugangs zuständig. Meist ist dies eines der operativen Unternehmen Digital Industries und Smart Infrastructure. Die Länder-CEOs werden mittelfristig die operativen Träger des wichtigsten Geschäfts vor Ort, aber trotzdem ganz Siemens dort vertreten. Dies ist auch aus Kostengründen wichtig. – Siemens will mit der “Vision 2020+” neue Geschäftsfelder erschließen. Wie viel Geld steht dafür zur Verfügung?Man muss andersherum anfangen. Überall, wo wir ein starkes Wachstumspotenzial mit einem angemessenen Profit Pool und gar einen Paradigmenwechsel sehen, den Siemens besser als andere Unternehmen nutzen kann, schauen wir uns Investitionsmöglichkeiten an. Dazu gehörten auch Unternehmen. Die Hürde liegt dabei hoch, schließlich muss die existierende Wertschaffung auf ein höheres Niveau gehoben werden. Dies ist deswegen schwierig, weil wir in vielen Geschäften auch jenseits der Digitalisierung und Automatisierung schon sehr gut unterwegs sind. So sind beispielsweise Bahn- oder Gebäudetechnik ausgesprochen profitabel. – Wenn man die Abschreibungen aus Unternehmenskäufen (PPA-Effekte) in das operative Siemens-Ergebnis hineinrechnet, stagniert die Marge seit Jahren. Ist das Ergebnis überhaupt so gut, wie immer behauptet wird?Das Ergebnis ist stark. Das Herausrechnen der PPA-Effekte, die bei Unternehmenskäufen entstehen, ist keine Camouflage, sondern eine “Serviceleistung” an den Kapitalmarkt, um einen klaren Blick auf die operative Leistungsfähigkeit zu geben. Es ist übrigens nicht so, dass wir nach PPA-Effekten kein besseres Ergebnis hätten. Denn der Gewinn pro Aktie, der das Gesamtergebnis widerspiegelt, ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.- Kauft Siemens die Software-Unternehmen zu teuer ein? Wir zahlen die branchenüblichen Multiples. Für uns liegt der Vorteil darin, dass wir solche Unternehmenseinheiten, die technologisch brillant, aber in ihrer Größe überschaubar sind, sehr schnell skalieren können. Bei jeder einzelnen Akquisitionsidee stellen wir den Vorschlag auf den Prüfstand. Sie sehen dann natürlich nur, was genehmigt wurde. – Das Ziel für die Rendite auf das eingesetzte Kapital bleibt gültig, das Erreichen wird aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben. Empfindet dies ein Finanzvorstand nicht als Offenbarungseid?Das sehe ich gar nicht so. Wir machen lediglich transparent, dass ein Roce von 10 bis 15 % aufgrund unserer aktuellen Portfolioaktivitäten kurzfristig nicht möglich ist. Alle Zielgrößen der “Vision 2020+” sind auf den gesamten Wirtschaftszyklus bezogen. Es wird also immer Situationen geben, in denen man einzelne Ziele nicht erreichen kann . . .- . . . so schlecht ist der Zyklus aktuell nicht.Der Zyklus ist gut, aber wir haben in den ersten beiden Quartalen des Geschäftsjahres ja auch unsere Ziel-Bandbreite für die Kapitalrendite erreicht, natürlich mit Sondereffekten. Zweitens möchten wir nicht die langfristigen Perspektiven verbauen. Es wäre illusorisch zu glauben, dass Transaktionen wie das geplante Gemeinschaftsunternehmen Siemens Alstom anfangs die Kapitalrendite erhöhen können. Nach drei oder vier Jahren aber tun sie es schon. Wir machen das auch bei jeder Ankündigung transparent. Wichtig ist also, dass die Perspektive stimmt. Der stärkste Werttreiber ist immer Wachstum. Außerdem betonen wir jetzt noch stärker den Free Cash-flow.- Sind Sie auf mittlere Sicht zufrieden mit dem Aktienkurs?Siemens hat in den letzten fünf Jahren einen nachhaltigen Kurs der Wertgenerierung für unsere Aktionäre eingeschlagen. Wir haben die Dividende stetig nach oben gefahren. Dies flankieren wir mit Aktienrückkäufen, auch wenn das in Europa nicht jeder mag. Ich frage Investoren bei jeder Gelegenheit, was wir besser machen können, damit sie noch mehr Geld in Siemens investieren. Von den meisten höre ich: Macht unaufgeregt und konsequent weiter. Ein Analyst hat es auf den Punkt gebracht und gesagt: “Be successfully boring for another ten quarters” – seid auch in den nächsten zehn Quartalen langweilig und erfolgreich. Wir setzen uns also auch weiterhin anspruchsvolle Ziele und verfolgen sie konsequent und nachhaltig.Das Interview führte Michael Flämig.