"Wir haben die Pubertät schon hinter uns"
– Herr Lutz, was verbirgt sich hinter dem Kunstnamen Covestro?Ein global führendes, wachsendes und innovatives Polymer-Unternehmen. Wir haben uns unter dem Dach von Bayer eine sehr starke Ausgangsposition erarbeitet, mit der wir jetzt in die Selbständigkeit starten können. Dabei müssen wir mit Blick auf unser Geschäftsmodell und unsere geschäftliche Aufstellung grundsätzlich nicht viel verändern. Um auch in Zukunft eigenständig erfolgreich sein zu können, kommen aber zu den bestehenden mehr als 14 000 Mitarbeitern des Teilkonzerns Material Science etwa 2 000 neu hinzu. Diese Expertise ist sehr wichtig für uns.- Betrifft das die Administration?Nicht nur in der Administration wird aufgestockt, sondern auch in anderen Bereichen. Das Kompetenzspektrum, das wir aus dem Bayer-Konzern übernehmen, ist relativ breit gefächert. Beispielsweise bekommen wir aus bisher zentral geführten Bayer-Einheiten Ingenieure oder auch IT-Experten.- Muss die Verwaltung im Zuge der Abspaltung auf neue Beine gestellt werden?Zum Teil ja. Es gab natürlich vorher schon ein Rechnungswesen und ein Controlling im Teilkonzern. Diese Bereiche werden partiell aufgestockt. Mit dem Finance-Bereich, der Steuerabteilung und der Revision kommen neue Bereiche dazu, die bisher in der Konzernzentrale angesiedelt waren.- Was wollen Sie künftig anders machen?Wichtig ist, dass wir Dinge nicht anders machen um des Andersmachens willen. Wir schauen uns vielmehr die Geschäftsprozesse ganz genau an und fragen uns, was wir in unserem Marktumfeld brauchen, um erfolgreich zu sein. Bayer hat als Life-Science-Unternehmen andere Anforderungen – zum Beispiel im regulatorischen Bereich. Wir brauchen zukünftig nur einen Teil der Geschäftsprozesse von Bayer abzubilden und können dadurch unsere Prozesse schlanker gestalten.- Stoßen Sie im Zuge des Carve-out nicht auch an Grenzen, weil Sie Dinge anders bewerten als der Mutterkonzern?Das liegt in der Natur der Sache, dass man manchmal die Dinge etwas anders sieht. Aber umgekehrt mache ich auch die Erfahrung, dass man uns viele Freiheiten lässt. Es gab Gespräche, in denen gesagt wurde, wir als Bayer würden das so machen, aber wir sehen, dass Covestro gute Argumente hat, um es anders zu machen. Solche Diskussionen sind sehr wichtig. Es wird gerne das Beispiel der Eltern gewählt, die ihr Kind in die Unabhängigkeit entlassen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man nicht immer mit allem einverstanden ist, was die Kinder machen. Aber manchmal muss man eben auch das Vertrauen haben, dass sie es gut machen. Und das Vertrauen ist da.- Um im Bild zu bleiben: Steckt Covestro gerade in der Pubertät?Wenn Sie Pubertät mit den jungen Wilden gleichsetzen, würde ich sagen, dass wir diese Phase schon hinter uns haben. Wir sind mit viel Euphorie, Enthusiasmus und Vorfreude unterwegs, unsere Zukunft künftig selbst zu gestalten.- Inwieweit haben Sie als Finanzchef der neuen Gesellschaft Einfluss auf die Ausgestaltung der Bilanz, insbesondere was die Passivseite anbelangt?Die Aktivseite ergibt sich von selbst. Die Anlagen, das Intellectual Property und Ähnliches sind gesetzt. Die Passivseite ist sicher spannender. Hier befinden wir uns mit Bayer in einem sehr partnerschaftlichen Dialog. Denn beide Seiten sind an einer Bilanzstruktur interessiert, mit der Covestro gut aufgestellt ist. Die endgültige Entscheidung ist aber noch nicht getroffen.- Was ist eine Bilanz, mit der Covestro gut aufgestellt ist? Heißt das Investment Grade?Ich möchte es gar nicht eingrenzen. Wir werden kapitalseitig angemessen ausgestattet sein – davon bin ich überzeugt. Aber an diesem Punkt muss ich bei Bayer auch keine Überzeugungsarbeit leisten.- Welchen Leverage verkraftet das Geschäft von Covestro?Das ist nicht zuletzt vom Marktumfeld abhängig. Wenn ich mir andere Chemie-Unternehmen mit einem Investment Grade anschaue, dann liegt deren Finanzverschuldung inklusive Pensionen etwa beim Dreifachen des Ebitda (Ergebnis vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen, Anm. d. Red.). Knapp unter Investment Grade ist es das 3,5- bis 4-Fache.- Covestro bekommt Konzerndarlehen mit auf den Weg, die dann zügig abgelöst werden sollen. Wie schnell geht so etwas?Ich fühle mich von Bayer nicht unter Druck gesetzt, dass wir schnell zurückzahlen müssten, auch wenn das natürlich unser eigener Anspruch wäre. Wir haben jetzt eine Handvoll Banken, mit denen wir die Finanzierung besprechen. Da ist aber noch nichts unterschrieben. Natürlich brauchen wir einen Bankenkreis, der uns eine Grundfinanzierung zur Verfügung stellen würde, wenn wir sie denn benötigten. Das sehe ich aber eher als Back-up. Unser Ziel ist es, die Fremdfinanzierung über den Kapitalmarkt darzustellen. Das alles hängt am Ende aber vom Marktumfeld ab und davon, welche Variante des Börsengangs – also IPO oder Spin-off – gewählt wird.- Sollte ein IPO scheitern, kommt es 2016 zum Spin-off, auch wenn dafür zunächst die Zustimmung der Hauptversammlung eingeholt werden muss. Wo liegt das Problem?Grundsätzlich gilt: Das Unternehmen soll an die Börse gebracht werden, sei es im Wege eines IPO oder eines Spin-off. Letzteres dauert natürlich länger und ist administrativ ein bisschen anspruchsvoller als das klassische IPO …- … und hat für den Mutterkonzern einen finanziellen Nachteil.Dann ändert sich natürlich auch die Ausgestaltung der bilanziellen Struktur.- Lässt sich das dann noch beeinflussen? Mit dem Carve-out zum 1. September steht die Bilanz doch fest.Auch mit der rechtlichen Eigenständigkeit bleiben wir zunächst eine 100-prozentige Tochtergesellschaft von Bayer. Das heißt, auch nach dem 1. September lassen sich noch Anpassungen vornehmen.- Aber der Abspaltungsbericht steht doch dann schon.Einen Abspaltungsbericht gibt es nur, wenn es zu einem Spin-off kommt.- Wann legen Sie die Bilanz zum 1. September offen?Wir werden auf den 31. August eine Bilanz aufstellen. Es wird der übliche Prozess mit Bilanzerstellung und Testierung, jedoch kann ich Ihnen noch kein Datum dafür nennen.- Wahrscheinlich Mitte November, oder?Das ist realistisch.- Zeitgleich mit der Intention to Float? Sie brauchen die Zahlen doch für das IPO.Es ist richtig, dass man für das IPO Zahlen vorlegen muss. Es gibt aber auch immer eine Absprache mit der BaFin, was genau im Prospekt stehen muss.- Gehen wir einmal davon aus, dass das IPO wie gewünscht klappt, dann wird sich Bayer im ersten Schritt nur von einer Minderheitsbeteiligung trennen. Hat Bayer dann noch Zugriff auf den Cash-flow?Nein, denn vor einem IPO wird der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag beendet. Sobald das geschehen ist, gibt es keinen Zugriff mehr auf den Cash-flow.- Als Hauptgrund für die Trennung führte Bayer an, dass die Chemie im Vergleich zu Healthcare und Cropscience bei der Verteilung der Investitionsgelder im Konzern häufig den Kürzeren zog. Startet Covestro mit einem eigenen Finanzkreislauf eine Investitionsoffensive?Da muss man zwei Dinge unterscheiden. Wir haben in der Vergangenheit ausreichend Mittel von Bayer bekommen. Momentan sind unsere Produktionskapazitäten größer als das, was wir benötigen. Der Anzug ist etwas groß, in den können wir hineinwachsen. Bis zum Ende der Dekade sehen wir keine signifikanten Investitionsnotwendigkeiten in neue Kapazitäten. Wir planen aber jetzt schon für die Zeit nach 2020 und werden spätestens dann einen Zugang zu eigenen Investitionsmitteln für neue Kapazitäten benötigen.- Demnach können Sie sich nicht als Wachstumswert an der Börse verkaufen?Doch, absolut. Wir haben noch viele Kapazitäten, die ungenutzt sind. Da werden wir hineinwachsen.- Dafür bedarf es aber auch der entsprechenden Nachfrage. Gerade mit Blick nach China haben sich die Perspektiven eingetrübt.Keine Frage, das Wachstum in China hat sich verlangsamt. Doch selbst wenn China nur mit 5 % jährlich wachsen sollte, wäre das absolut gesehen ein riesiges Volumen, das an zusätzlichem Bruttoinlandsprodukt (BIP) entsteht. In den Industrien, in denen wir tätig sind, wachsen wir teilweise doppelt so schnell wie das BIP. Der Bausektor wächst beispielsweise mit einer Rate von 2 bis 3 % pro Jahr. Isolationsmaterialien für den Bausektor wachsen dagegen schon mit 4 bis 5 % und Polyurethan, das dort als Isolationsmaterial verwendet wird, wächst mit 6 bis 7 % pro Jahr, weil es hervorragende Produkteigenschaften hat. Insofern bin ich um das Wachstumspotenzial, das für unsere Industrie existiert, nicht besorgt.- Das, was Sie als “zu großen Anzug” umschreiben, sind zu gut Deutsch Überkapazitäten.Damit kämpft unsere Industrie seit den Krisenjahren 2008/2009. Die gesamte Industrie hat signifikante Investitionsentscheidungen kurz vor Ausbruch der Krise getroffen, weil der Markt damals nur eine Richtung kannte. Dann kam die Krise, aber niemand stoppte die Investitionen. Das war wirtschaftlich sinnvoll, die weit fortgeschrittenen Investitionen durchzuziehen. Deswegen gab und gibt es die Überkapazitäten. Jetzt kommen wir aber an den Punkt, an dem die Auslastung je nach Produkt bei 80 bis 85 % liegt. Dadurch haben wir einerseits noch genügend Spielraum für weiteres Wachstum. Andererseits sehen wir in diesem Jahr sehr schön, dass sich das Preisverhalten und damit auch die Pricing Power ändert, sobald die Auslastung um 2, 3 Prozentpunkte steigt. Dann lassen sich auch wieder höhere Preise durchsetzen.- Welche Marktposition nehmen Sie ein?Wenn man sich unsere Geschäfte anschaut, dann sind wir zu etwa 80 % Commodity. Da sind wir, wenn man den Weltmarkt anschaut, unter den Marktführern. Die anderen 20 % entfallen auf unseren CAS-Bereich mit Rohstoffen für Lacke, Klebstoffe und Spezialitäten – auf diesem Gebiet sind wir mit Abstand Marktführer. Das ist sehr attraktives Geschäft, das stabile Ebitda-Margen in der Größenordnung von über 20 % liefert.- Covestro ist also Nummer 1 oder 2 im Markt. Wer sind denn die stärksten Wettbewerber?Es gibt kein Unternehmen, das unmittelbar mit uns vergleichbar ist. Selbst die sehr breit aufgestellten Wettbewerber sind nicht in all unseren Produktsegmenten tätig. Auch regional gibt es große Unterschiede und teilweise sehr starke Wettbewerber, zum Beispiel in China und den USA.- Wer sind Ihre Peers?Im Peergroup-Vergleich versucht man die Geschäftsfelder abzubilden, in denen man selbst tätig ist – ohne den Anspruch zu erheben, dass diese Unternehmen eins zu eins vergleichbar sind. Zu unserer Peergroup könnten BASF und Evonik gehören, aber auch Huntsman oder Dow. Am Ende überlasse ich es den Banken, wie sie die Peergroup zusammenstellen.- Für einen Chemiekonzern ist Covestro sehr eng aufgestellt. Reicht das für die Eigenständigkeit?Das wäre so, als wenn Sie sagen würden, Daimler baut nur Autos. Allein bei den Polyurethanen gibt es 3 000 verschiedene Spielarten. Ähnlich sieht es auch bei den Polycarbonaten aus, auch hier gibt es die vielfältigsten Einsatzmöglichkeiten. Ich mache mir keine Sorgen, dass wir nicht breit genug diversifiziert sind. Entscheidend ist vielmehr, dass keine Industrie und keine Region eine dominierende Position einnimmt.- Demnach stehen keine Akquisitionen zur Diversifikation auf dem Programm?Nein. Mit unseren drei Standbeinen besitzen wir gute Wachstumsmöglichkeiten. Wir sehen keine Notwendigkeit, das Portfolio signifikant zu verändern. Grundsätzlich schließen wir kleinere Transaktionen natürlich nicht aus. Angesichts unserer bereits hohen Marktanteile bei Polyurethan und Polycarbonat sind wir kartellrechtlich in vielen Märkten und Produkten limitiert. Andererseits gibt es immer Arrondierungsmöglichkeiten, zum Beispiel den Kauf ergänzender, neuer Technologien. Dabei handelt es sich aber um kleine Akquisitionen und Partnerschaften. Das findet meistens unterhalb des Radarschirms der Öffentlichkeit statt.- Bei Bayer wurde das Thema der Rückwärtsintegration vor einigen Jahren ernsthaft diskutiert. Gibt es die Notwendigkeit, sich einen Rohstoffpartner an die Seite zu holen?Wir sehen dafür keine Notwendigkeit. Wir investieren lieber in Anlagen, die weniger energieintensiv sind, statt dorthin zu gehen, wo Energie günstiger ist. Gerade mit Blick auf den arabischen Raum, als Beispiel, wären hohe Transportkosten die Folge. Die Absatzmärkte sind ja nicht in Nahost, sondern in China, Nordamerika und Europa.- Sie wollen sich ohne größere Investitionen oder Akquisitionen als Wachstumswert verkaufen. Was bedeutet das für die Dividende?Wir haben die Dividendenpolitik noch nicht endgültig festgelegt. Aber klar ist, dass man als börsennotiertes Unternehmen für die Investoren attraktiv sein muss. Wenn wir zum einen Wachstum versprechen, müssen die Anteilseigner auch an diesem Wachstum partizipieren können. Wir haben ein funktionierendes Geschäftsmodell, von dem wir erwarten, dass jährlich Gewinne und, was vielleicht noch wichtiger ist, jährlich ein attraktiver Free Operating Cash-flow erwirtschaftet werden.- In den vergangenen vier Jahren hat Material Science die Kapitalkosten nicht verdient. Wird es 2015 klappen?Wir wollen unsere Kapitalkosten in diesem Jahr wieder vollständig verdienen. Wenn man sich unsere Zahlen zum ersten Halbjahr anschaut, sieht man, dass wir auf gutem Weg sind …- … dank Euro-Schwäche und niedriger Rohölpreise…… keine Frage, dass das geholfen hat. Aber wir hatten auch eine gute Volumenentwicklung und mithin eine bessere Kapazitätsauslastung.- Welches sind die Kennzahlen, nach denen Sie künftig steuern?Wir werden in erster Linie auf drei Key Performance Indicators (KPI) schauen: das Wachstum, also die Volumina. Das ist wichtiger als beispielsweise der Umsatz. Zum Zweiten die Prämie über den Kapitalkosten, also der Return on Capital Employed, und der Free Operating Cash-flow.- Wie ist Letzteres zu verstehen? Sagen Sie, ich will in diesem Jahr so viel Cash-flow erwirtschaften, dass daraus zumindest die Dividende für das Vorjahr bezahlt werden kann?Dividendenkontinuität halte ich persönlich für ein sehr hohes Gut. Ich gehe davon aus, dass wir für die Ausschüttung eine Bandbreite festlegen, und in Abhängigkeit von der operativen Entwicklung fällt der Ausschüttungssatz mal höher oder niedriger aus.- Unterstellt, das IPO gelingt, dann befindet sich nur eine Minderheit im Streubesitz. Müssen Sie fürchten, dass der Aktienüberhang die Kursentwicklung bremst?Wie groß der Aktienüberhang im Falle eines IPO wäre, ist eine Entscheidung von Bayer. Ich gehe aber davon aus, dass der Streubesitz dann auf eine angemessene Handelsliquidität ausgerichtet sein würde. Ich glaube, dass für die Kursentwicklung eines Unternehmens am Ende immer die operative Performance den Ausschlag gibt. Daran werden wir gemessen werden.- Einspruch: Die Kursentwicklung von Evonik widerlegt diese Aussage.Hier sind wir wieder an dem Punkt, dass sich die Unternehmen nur schwer miteinander vergleichen lassen – gerade auch, was die Eigentümersituation anbelangt, wie an diesem Beispiel deutlich wird.- Da wie dort gibt es Altaktionäre, die einen Großteil der Aktien halten und diese absehbar versilbern wollen. Wo ist der Unterschied?Wir müssen beweisen, dass wir unser Geschäft beherrschen und gute Ergebnisse erzielen. Es ist Sache des Aktionärs, gegenüber dem Kapitalmarkt klar zu kommunizieren, wie er mit möglicherweise verbliebenen Aktien umgehen möchte. Aber auch an diesem Punkt haben wir eine hohe Interessenskongruenz, weil ein abgabewilliger Aktionär kein Interesse an sinkenden Kursen hat.—-Das Interview führten Annette Becker und Walther Becker.