"Wir halten an eigener Stahlproduktion fest"
– Herr Eder, als Weltstahlpräsident haben Sie die ganze Branche im Blick. Billige Importe aus China machen der europäischen Stahlindustrie zu schaffen. Was haben die Strafzölle der EU gebracht?Insgesamt hat sich der Druck aus den Importen in den letzten sechs Monaten etwas entspannt. Unter anderem das hat dazu geführt, dass die Stahlpreise erstmals seit fünf Jahren auch über den Sommer nicht eingebrochen sind. Das ist ein gewisser Fortschritt. Denn in den vergangenen Jahren ging es jeweils nur im Frühjahr bergauf und ab Sommer wieder nach unten. Wir gehen als Voestalpine daher davon aus, dass das Preisumfeld sich in den nächsten sechs Monaten tendenziell verbessert. Ob das dann das gesamte Jahr 2017 anhält, ist offen.- Die EU will die CO2-Regulierung verschärfen. Was bedeutet das für die Stahlindustrie?Wenn wir genauer schauen, was bei aller Aufbruchsstimmung jetzt im Anschluss an den Klimagipfel von Paris wirklich passiert, dann gibt es bisher vor allem Ankündigungen. Es gibt Ratifizierungen, das ist richtig. Aber alles, was sich außerhalb Europas abspielt, ist nach wie vor vage. Europa ist ja schon in der Vor-Paris-Periode in Vorlage getreten mit viel schärferen Maßnahmen als alle übrigen Regionen. Ich gehe vor diesem Hintergrund davon aus, dass Europa die 40 % CO2-Reduktion, die bis 2030 angestrebt werden, nicht weiter verschärft. Sonst würde sich der Kostennachteil der energieintensiven europäischen Unternehmen endgültig so verstärken, dass er auch durch noch so stark verbesserte Effizienz und Produktivität nicht mehr wettgemacht werden kann. Ganz entscheidend wird dabei sein, dass die europäische Politik zur Kenntnis nimmt, dass die Stahlindustrie nicht von heute auf morgen auf Technologien umsteigen kann, die CO2-frei sind. Wir brauchen mindestens 20 Jahre, um das aus meiner Sicht einzig mögliche Instrument, das eine Alternative zum Kohlenstoff bildet, nämlich den Wasserstoff, wirklich großflächig einsatzfähig zu machen. Die Politik muss Übergangstechnologien für bis zu zwei Jahrzehnte als ausreichend zulassen. Zum Beispiel Eisenschwamm, wie wir ihn jetzt in unserer neuen Anlage in Texas produzieren. Bei der Herstellung von Eisenschwamm kann anstelle von Kohle als Energieträger Gas verwendet werden, womit in etwa 40 % weniger CO2 entsteht. Wir werden es schaffen, mit den 800 000 Tonnen Eisenschwamm, die wir aus Corpus Christi in Texas beziehen, hier in Österreich unsere CO2-Emissionen um insgesamt etwa 5 % zu reduzieren. Das ist ein Riesensprung, denn das sind ja viele Hunderttausend Tonnen weniger CO2. Das muss akzeptiert und auch honoriert werden. Man darf nicht sofort die Schraube wieder weiter drehen.- Wie hoch ist die Kostenbelastung durch die CO2-Regeln der EU?Wir bei Voestalpine hatten seit 2007 zwischen 5 Mill. und 20 Mill. Euro, in den letzten Jahren sind es zwischen 15 Mill. und 20 Mill. Euro, die wir an Belastung jährlich aus dem Kauf von CO2-Zertifikaten zu tragen haben. Wir sind das einzige Stahlunternehmen, das von Anfang an nicht mit ausreichend Freizertifikaten seitens seiner Regierung versorgt wurde. Ich empfinde das als blanken Hohn, wenn man bedenkt, dass wir gleichzeitig als Benchmark der Branche gelten, was die Umwelteinrichtungen betrifft.- Was ist der neuralgische Punkt in den Verhandlungen über das Emissionshandelssystem?Ich halte das Emissionshandelssystem von Beginn weg für eine absolute Fehlkonstruktion, die auch nicht mehr sanierbar ist. Es ist eine Mischung aus sehr kapitalistischen Börsenelementen und einer staatlichen Administration. Der Staat legt fest, wie viel an Zertifikaten jedes Land zur Verfügung stellt. Das Ganze wird dann sehr willkürlich gesteuert und kontrolliert auf EU-Ebene. Das konnte von Vornherein nicht funktionieren. Diese Mischung aus regulatorisch und kapitalistisch war ein absoluter Fehlgriff. Mir würde es wesentlich besser gefallen, zu einem viel einfacheren, klaren System überzugehen. Einfacher, transparenter und zweifellos auch fairer wäre eine vergleichsweise simple, EU-einheitliche CO2-Besteuerung, die die umwelttechnische Effizienz eines Werkes zugrundelegt. Es gäbe dann ein Benchmark-System, in dem die, die schon sehr viel getan haben, weniger belastet werden und umgekehrt.Wir wissen nicht, wie viele Zertifikate wirklich in den nächsten Jahren zurückgekauft werden. Wir wissen nicht, wie es mit dem Thema Global Level Playing Field weitergeht und wie mit dem Benchmark-System. Wie schützt man Europa vor unangemessenen Importen aus umweltaversen Regionen? Da sind so viele Unwägbarkeiten, dass man sich meiner Meinung nach dazu durchringen sollte, das gesamte Emissionshandelssystem, wie es heute ist, zu verschrotten und durch ein faireres, einheitliches Modell zu ersetzen.- Welche Folgen hätte es, wenn Thyssenkrupp und Tata Steel sich zusammenschließen?Mitte der neunziger Jahre gab es allein in der EU zwei Dutzend größere Stahlunternehmen. Heute haben wir sechs oder sieben. Aber was in Europa passiert ist, verdient meiner Meinung nach den Ausdruck Konsolidierung nicht, weil es eine rein rechtliche Zusammenführung von Unternehmen war. Es gab in den letzten 15 Jahren keine echte Strukturbereinigung in der Stahlindustrie. Man hat keine nennenswerten Mengen herausgenommen, man hat keine obsoleten Werke stillgelegt. Man hat sich nicht – und das wäre meiner Meinung nach der einzige Weg in die Zukunft in Europa – auf anspruchsvolle Stahlqualitäten konzentriert. Es dominiert weiterhin Massenstahl, der heute wesentlich kostengünstiger anderswo als in Europa erzeugt werden kann. Das ist in Wirklichkeit das Kernproblem. Europa hat heute mindestens 30 bis 40 Millionen Tonnen zu viel an Stahlkapazitäten. Die müssten aus dem Markt genommen werden. Und dann müsste man im Sinne von Langfristkonzepten beginnen, bis 2030 Europa wirklich auf ein anspruchsvolles und damit global konkurrenzfähiges Qualitätslevel zu bringen. Solange in Europa in Konkurrenz zu China, zu Russland, zur Ukraine, zur Türkei erzeugt wird, also einfache Massenstähle, dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Industrie immer mehr unter Druck kommt.- China hat angekündigt, Kapazitäten abzubauen. Nehmen Sie das ernst?Fakt ist, dass konkrete Umsetzungsschritte bisher nicht erfolgt und auch nicht wirklich bekannt sind. Das heißt, die Stahlindustrie erwartet in absehbarer Zeit eine Konkretisierung des Prozederes, wie die angekündigten 150 Millionen Tonnen wo und über welchen Zeitraum abgebaut werden sollen. Ich gehe – zumindest bis auf Weiteres – davon aus, dass China die Ansagen ernst meint, und rechne daher damit, dass wir in den nächsten Monaten Konkreteres erfahren werden.- Die Stahlpreise haben in den vergangenen Monaten angezogen. Ist das nachhaltig?Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Druck gegen subventionierte Importe, der jetzt über die Anti-Dumping-Zölle aufgebaut wurde, in den nächsten Monaten anhält, wovon ich ausgehe. Ich glaube, dass wir aus Brüssel in den nächsten Wochen endgültige Anti-Dumping-Beschlüsse hören werden. Die zweite Voraussetzung ist, dass die Rohstoffpreise tendenziell steigen. Das bedeutet für die Stahlhersteller eine andere Verhandlungsposition gegenüber den Kunden als bei permanent fallenden Rohstoffpreisen, wie wir das in den vergangenen drei Jahren erlebt haben. Und das Dritte ist, und das ist für mich recht erstaunlich, dass wir trotz aller teilweise enormen politischen Probleme in Europa und im europäischen Umfeld – also von Brexit über die Russland-Ukraine-Situation, die Türkei und dann alles, was sich im Nahen und Mittleren Osten bis Nordafrika abspielt – in der EU ein Wirtschaftswachstum von um die 1,5 % recht stabil halten. Es sieht ganz so aus, als ob trotz aller politischen Wirrnisse dieses Wachstum in das kommende Jahr hinein hält.- Sie haben sich für den Wahlspruch entschieden, nicht mehr Stahl zu produzieren, sondern mehr aus Stahl zu produzieren. Thyssenkrupp ist dabei, sich vom Stahl zu trennen. Wollen Sie auch unabhängiger vom Stahl werden, ihn vielleicht ganz abgeben?Wir haben allein hier in Linz in den vergangenen zehn Jahren an die 5 Mrd. Euro investiert; es ist technologisch in der EU heute sicher der modernste Stahlstandort. Wir sind im Bereich hoch- und höchstfester Stähle inzwischen in Europa wohl führend. Gerade dieses Segment wächst unheimlich schnell – vor allem auch in der Automobilindustrie. Wir würden uns massive Nachteile zufügen, wenn wir den Stahl abgeben, weil wir von Dritten viele dieser neuen Qualitäten einfach nicht bekommen. Unsere Stärke resultiert immer mehr daraus, dass wir es schaffen, die Stärken auf der Werkstoffseite mit denen in der Verarbeitung zu verbinden. Für die Automobilkomponentenfertigung in den USA etwa verwenden wir nur Stähle aus Linz, weil wir sie woanders nicht bekommen. Wenn wir da voll in Betrieb sind ab 2020, geht es allein für den Komponentenstandort in Atlanta um eine Größenordnung von bis zu 150 000, vielleicht sogar 200 000 Tonnen an absoluten Hightech-Stählen. So dass wir 2015 auch nach intensiver Diskussion im Aufsichtsrat mit 100-prozentiger Zustimmung die Entscheidung getroffen haben, dauerhaft im Stahl zu bleiben – natürlich unter der Voraussetzung, dass wir die Spezialisierung konsequent vorantreiben.- Das zweite Geschäftsquartal ist gerade zu Ende gegangen. War es besser als das vorhergehende?Ich halte die Ansage aufrecht, dass wir gleich oder vielleicht sogar besser werden. Ich halte auch die Ansage aufrecht, dass das zweite Halbjahr deutlich besser werden wird als das erste. Allein schon vom Umsatz her, weil die Produktion der neuen Direktreduktionsanlage für Eisenschwamm im texanischen Corpus Christi erfolgreich angelaufen ist. Insofern hat sich am Ausblick aus dem ersten Halbjahr nichts geändert.- Sie wollen im steirischen Kapfenberg das alte Edelstahlwerk durch ein neues ersetzen. Oder gehen Sie doch ins außereuropäische Ausland?Ersetzen werden wir es auf jeden Fall. Das Werk ist in der Bau- und Versorgungsinfrastruktur in Teilen fast 100 Jahre alt. Es macht keinen Sinn, das großflächig zu renovieren. Wir sind derzeit in Gesprächen mit den Behörden, was Flächenwidmungen, Bebauungspläne und das Thema Umweltverträglichkeit betrifft. Die Gespräche verlaufen auf einem durchaus konstruktiven Niveau. Die Entscheidung wird letztlich aber bestimmt von der europäischen Energie- und Klimapolitik und wie sie sich in der Langfristperspektive aus der Sicht der zweiten Jahreshälfte 2017 darstellt. Das heißt, wir werden jetzt die Planungen vorantreiben. Das sollte bis zum Sommer 2017 weitgehend gelaufen sein. Parallel dazu warten wir ab, wie die weiteren Entscheidungen zum Emissionshandelssystem beziehungsweise im Energiebereich auf europäischer Ebene aussehen. Kommt es zu neuerlichen Verschärfungen und anhaltender Verunsicherung, werden wir uns ernsthaft mit den außereuropäischen Alternativen befassen.- Die CO2-Frage ist der Kern?CO2, in diesem Falle aber noch mehr elektrische Energie sind die Schlüsselthemen.- Wollen Sie tatsächlich trotz der derzeit überhöhten Preise für Firmenkäufe Akquisitionen für bis zu 300 Mill. Euro im Jahr tätigen?Bei größeren Zukäufen ist man heute aufgrund des billigen Geldes sehr schnell in der Situation, dass man mit Finanzinvestoren konkurriert und dann als strategischer Investor einfach nicht bereit ist, irrationale Preise zu zahlen. Das heißt, wir müssen bei Akquisitionen, wenn nicht außergewöhnliche Umstände eintreten, kleinere und damit für Finanzinvestoren häufig weniger attraktive Brötchen backen. Damit wird es aber auch schwieriger, die bis zu 300 Mill. Euro jährlich auszugeben.- Sie wollen vorrangig im Automobilbereich investieren. Können Sie konkrete Vorhaben nennen?Wir setzen stark auf Warmumformung. Weil wir da einfach über eine zukunftsweisende Technologie verfügen – für sehr leichte, gleichzeitig aber enorm feste, hochkomplexe Teile beziehungsweise große Komponenten. Da investieren wir gerade 120 Mill. Euro in den Ausbau unserer amerikanischen Kapazitäten. Das ist ein Schwerpunkt. Wir bauen derzeit, und das ist weniger bekannt, auf breiter Front in Mexiko aus – etwa ein Teilewerk vor allem für europäische Hersteller oder neue Wärme- und Oberflächenbehandlungskapazitäten im Edelstahl. Wir denken auch darüber nach, dort in der Schweißtechnik auszubauen. Was wir im Automotive-Bereich noch planen, sind weitere Investitionen in China. Die Pläne für ein neues Edelstahlwerk dort liegen dagegen auf Eis. Man muss jetzt mal abwarten, ob es tatsächlich, so wie es eigentlich der aktuelle Fünfjahresplan vorsieht, in Richtung massiver Forcierung technologisch anspruchsvoller Bereiche geht. Dann würde dieses Werk durchaus passen. Wir verfügen in China zudem bereits seit Längerem über ein Werk für Hochgeschwindigkeitsweichen und verhandeln derzeit ein zweites Weichen-Joint-Venture.- Sie haben ein Drittel Umsatzanteil im Automotive-Geschäft. Wo wollen Sie hin?Also wir werden, wenn überhaupt, noch auf maximal 35 % erhöhen. Darüber hinaus wollen wir nicht gehen, weil wir nicht ein zu ausgeprägtes Klumpenrisiko schaffen wollen. Automotive ist ohnehin bereits unser weitaus größter Bereich. Der nächstgrößere ist unter normalen Marktbedingungen der Energiesektor mit etwa 15 %, also das Geschäft mit Öl- und Gasausrüstung. Der dritte zentrale Sektor ist der Eisenbahnbereich, er liegt in einer ähnlichen Größenordnung. Zusammen sind das rund zwei Drittel unseres Umsatzes. Ergänzt um den ebenfalls wichtigen Zukunftsbereich Maschinenbau mit ungefähr 10 % liegen wir dann etwa bei gut 75 % unseres Umsatzes mit einer sehr sinnvollen Verteilung.- Was unterscheidet Voestalpine als Stahlhersteller mit der höchsten operativen Marge vom Konkurrenten Thyssenkrupp?Grundsätzlich muss jeder selbst wissen, wohin er will. Dieses permanente Vergleichen mit anderen haben wir deshalb eigentlich nie gemacht. Wir sind einfach unseren eigenen Weg gegangen, weg vom Massenstahl, weg vom Denken in Millionen Tonnen. Vor 15 Jahren haben uns dafür alle belächelt. Heute wünschten sich wohl manche, auch diesen Weg gegangen zu sein. Wenn allerdings jemand glaubt, jetzt machen wir das und in zwei Jahren sind wir dort, wo die sind, dann muss ich schmunzeln, weil das ist ein Generationenthema, das überdies auch nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen funktioniert. Wir haben 15, 20 Jahre gebraucht, so weit zu kommen. Das kann man sich auch – anders als Anlagen – nicht kaufen. Da geht es um ein absolut anderes Verständnis als das, das Massenstahlhersteller haben. Unsere Leute fragen sich Tag und Nacht, was kann ich für den Kunden tun, wie kann ich dessen Probleme besser lösen – ihn und damit auch mich selbst noch besser machen?- Sie haben in Düsseldorf ein 3-D-Druckzentrum eröffnet, das erste Komponenten für Rennwagen und Flugzeuge produziert. Wie geht es weiter?Wir verhandeln in Ergänzung zu Düsseldorf jetzt im Moment im Nafta-Raum mit einem 3-D-Druck-Unternehmen, das ähnliche Ambitionen hat, aber auf Basis einer anderen Technologie. Das Gleiche passiert in Singapur. Wir möchten beides bis Ende des Geschäftsjahres in trockene Tücher bringen, so dass unter Führung von Düsseldorf ein multinationales Entwicklungsteam entsteht, das uns – ausgehend von unseren pulvermetallurgischen Kompetenzen – in den nächsten fünf Jahren zu einem Hochqualitätsspieler auch in diesem Segment machen soll.—-Das Interview führte Christoph Ruhkamp.