"Wir werden 2030 weit mehr Beschäftigte haben als heute"
Herr Appel, wie sind die Perspektiven der Deutschen Post DHL für das neue Jahr?Wir gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft 2020 in etwa so wächst wie 2019. Die Entwicklungen der vergangenen Wochen stimmen mich vielleicht sogar noch etwas optimistischer. Warum?Falls wir eine gute Lösung für den Brexit bekommen und sich die USA und China einigen, dann werden wir wahrscheinlich etwas stärkeres Wachstum sehen als dieses Jahr. Und zwar vorwiegend aus psychologischen Gründen. Die Unternehmen haben sich in den vergangenen zwölf Monaten mit Investitionsentscheidungen zurückgehalten. Und diese Zurückhaltung dürfte wieder schwinden, wenn wir Lösungen haben. Spüren Sie schon, dass dieser Attentismus nachlässt?Es gibt erste Unternehmen, die wieder größere Entscheidungen zu ihrem Geschäft in China und den USA treffen. Noch ist es zu früh, weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass wir Anfang des Jahres mehr Optimismus erkennen werden als im abgelaufenen Jahr. Wie kommen Sie zu Ihrem verhaltenen Optimismus?Unser jüngster DHL Global Connectedness Index, mit dem wir einmal im Jahr anhand von Handels-, Kapital-, Informations- und Personenströmen den Stand der weltweiten Vernetzung messen, zeigt ein weiterhin hohes Niveau der Globalisierung. Während der Handel, Personenverkehr und Informationsaustausch weiter gestiegen sind, hat der Kapitalfluss nachgelassen. Im Falle von Unsicherheiten reagieren als Erstes die Kapitalentscheidungen. Jetzt sehen wir ein starkes Weihnachtsgeschäft, und weltweit ist die Beschäftigung auf einem hohen Stand. Die Fundamentaldaten sind also positiv. Mit welchen Folgen rechnen Sie infolge des Brexit?Ich habe immer gesagt: Der Brexit ist langfristig nachteilig. Noch nie hat ein Land von Protektionismus profitiert. Wenn es ein geordneter Schritt wird, sind die kurzfristigen Folgen wahrscheinlich nicht so groß wie befürchtet. Was bedeutet das für die Post?Wir haben uns so gut wie möglich vorbereitet. So haben wir zum Beispiel zusätzliche Mitarbeiter für die Verzollung eingestellt. Unser oberstes Ziel ist natürlich, unseren Kunden zur Seite zu stehen und sie so zu unterstützen, dass ihr Geschäft reibungslos weiterläuft. Und die langfristigen Auswirkungen des Brexit?Jede Form von Handelsbarrieren erzeugt Kosten, die keinen Wert schaffen. Wenn sich die EU und Großbritannien nicht auf einen vernünftigen Freihandel einigen, dann werden Unternehmen ihre Produkte neu registrieren lassen müssen. Dann müssen sie doppelt bezahlen – und letztlich der Konsument. Freier Handel bietet Vorteile für große Unternehmen wie uns, aber vor allem auch für Mittelständler. Ist Europa da immer auf der guten Seite?Das würde ich nicht sagen. Es ist sicher richtig, dass wir ein Level Playing Field, also faire Wettbewerbsbedingungen, brauchen. China benötigt zum Beispiel keinen besonderen Schutz mehr. Das hat auch bei Entscheidungen des Weltpostvereins in diesem Jahr eine Rolle gespielt. Es gab ja Verunsicherung durch Trump. Hat sich das gegeben?Der Handelsstreit zwischen den USA und China sorgt nach wie vor für Unsicherheit. Wir brauchen hier Klarheit. Aber langfristig: Renationalisierung, Krise des Multilateralismus – ist Ihnen nicht bange?Dass die Nationalstaaten wieder stärker in den Vordergrund treten, ist keine positive Entwicklung. Die Historie zeigt, dass dies zu Konflikten führt. Die Rückbesinnung auf das Nationale gründet auf der Hoffnung, dass dann alles stabiler und besser ist – aber das stimmt ja nicht. Ist die Globalisierung auf dem Rückzug?Nein. Europa hat gerade mit Japan und Mercosur Freihandelsabkommen geschlossen. Das sind große Errungenschaften, die mehr wiegen als die Einführung von einigen zusätzlichen Zöllen zwischen China und den USA. Der Trend geht nach wie vor in die richtige Richtung. Trotzdem bereitet mir der Nationalismus mancherorts durchaus Sorgen. Dax-Vorstände halten sich ja eigentlich mit politischen Aussagen zurück. Wo wäre es angebracht, dass Sie der Politik sagen, wo es langgeht?Ich mache das nicht parteipolitisch, sondern an Themen entlang. Ich sage beispielsweise schon seit langem: Eine CO2-Bepreisung ist richtig, weil dies gut für das Klima ist und die Politik dadurch Planbarkeit für die Unternehmen schafft. Dieser Preis sollte aus Wettbewerbsgründen mindestens europäisch, am besten global gelten. Wir müssen dazu über Ländergrenzen und Industrien hinweg zusammenarbeiten. Es wäre gut gewesen, wenn in Madrid die Weichen für ein globales System zur CO2-Bepreisung gestellt worden wären. Solange CO2 nichts kostet, bekommen wir keinen Zug auf alternative Technologien. Und andere Themen?Ich habe mich an verschiedenen Stellen zu politischen Themen wie 2015 zur Migration geäußert, und ich habe mich klar für die Aufnahme und Integration von Geflüchteten positioniert. Deutsche Post DHL beschäftigt heute unter allen Dax-Unternehmen mit Abstand die meisten Geflüchteten, aktuell rund 5 000. Unser Land ist nicht – wie viele es prognostiziert haben – den Bach runtergegangen, obwohl es 1,5 Millionen Menschen aufgenommen hat. Was muss man tun, um Europa wettbewerbsfähiger zu machen?Aus meiner Sicht sollten wir uns in Europa auf vier Dinge fokussieren: Bildung, Infrastruktur, Offenheit der Märkte und Digitalisierung. Wir haben in Europa für jedes gesellschaftliche Problem in mindestens einem Land bereits eine gute Lösung. So gibt es in Österreich weniger Probleme mit Mietsteigerungen, in Deutschland haben wir ein duales Bildungssystem. Ich wünsche mir, dass die nationalen Regierungen bewusster zur Kenntnis nehmen, wer wofür die beste Lösung hat, und diese dann auch übertragen. So können wir Europa noch stärker machen. Lassen Sie uns über Klimaschutz sprechen: Die Post schickt immer mehr Paketautos auf Tour. Wie passt das zusammen?Zunächst einmal: Das dynamische Wachstum im Online-Handel und damit auch das Paketaufkommen sind nicht grundsätzlich schlecht für die Umwelt. Ein normales Paket hat einen CO2-Fußabdruck, der einer Drei-Kilometer-Fahrt mit einem durchschnittlichen Auto entspricht. Mit weiter steigenden Mengen verbessert sich dieses Verhältnis zugunsten des Online-Handels. Darüber hinaus verbessern wir unseren Fußabdruck durch die Umstellung unserer Flotte auf Elektromobilität. Was strebt die Post in Sachen CO2-Reduzierung an?Wir haben uns vorgenommen, bis 2025 unsere CO2-Effizienz gegenüber 2007 um 50 % zu verbessern und unsere eigene Abholung und Zustellung zu 70 % mit sauberen Konzepten wie Fahrradzustellung oder Elektromobilität durchzuführen. Bis 2050 wollen wir alle logistikbezogenen Emissionen auf null reduzieren. Wo ist denn die Nachhaltigkeit der Post anschaulich?Dazu gibt es viele Beispiele, unter anderem in der Gebäude-, Flotten- und Netzwerkoptimierung: Wir beziehen unseren Strom in Deutschland vollständig aus erneuerbaren Energien. Konzernweit decken wir bereits 77 % unseres Verbrauchs mit Ökostrom ab. Wir produzieren mit dem Streetscooter unser eigenes elektrobetriebenes Zustellfahrzeug. Wir arbeiten kontinuierlich an der Optimierung unserer Auslastung und Routen. Ein sehr erfolgreiches Beispiel ist hier auch die Packstation. Nachhaltigkeit stützt das Ergebnis – oder andersrum?Wir verfolgen seit vielen Jahren das Ziel, erste Wahl für Kunden, Mitarbeiter und Investoren zu sein und gemäß unserem Handelsauftrag Menschen zu verbinden und Leben zu verbessern. An der einen Stelle kostet Nachhaltigkeit Ergebnis, weil sie zum Beispiel Investitionen in neue Technologien oder veränderte Prozesse erfordert. An der anderen Stelle bringt ein nachhaltiger Fokus aber auch Ergebnis, weil unsere nachhaltigen Konzepte, zum Beispiel in der Lagerlogistik, ein klarer Wettbewerbsvorteil sind. Sie suchen Partner für den Streetscooter?Wenn wir über den eigenen Bedarf hinaus signifikant wachsen wollen, dann ist die Fahrzeugproduktion nicht unsere Kernkompetenz. Wir brauchen daher Partner, die dieses Wachstum ermöglichen. Tut sich da 2020 etwas?Das müssen wir sehen. Wir haben hier keinen Zeitdruck. Wir sind mit der Entwicklung von Streetscooter sehr zufrieden. Gibt es einen Wunschzettel, was die Vorgaben für die Universaldienste im Postgeschäft angeht?Unsere Briefvolumina sinken seit Jahren um etwa 2 bis 3 % pro Jahr. Unsere Kosten hingegen steigen. Darüber hinaus ist der Öffentlichkeit kaum bekannt, dass diese Regulierung die Umwelt belastet und auch den CO2-Ausstoß erhöht. Um die rechtlichen Vorgaben und die darin vorgeschriebene Lieferung am nächsten Tag zu garantieren, müssen wir heute immer noch Briefe innerhalb Deutschlands mit dem Flugzeug transportieren – die schlechteste Alternative für die Umwelt. Außerdem müssen wir an einzelnen Tagen unsere Zusteller losschicken, um weniger als 2 % unserer Wochenmengen zu verteilen. Ist das noch zeitgemäß? Sie sprechen über die Montagszustellung?Ja. Da wir die weit überwiegenden Mengen am gleichen Tag verarbeiten, sind unsere Sendungsmengen an Montagen sehr gering. Wir brauchen hier pragmatische Lösungen. Unsere Verpflichtung zur Sechs-Tage-Zustellung ist im Übrigen im Vergleich mit anderen Ländern sehr hoch. Eine Fünf-Tage-Zustellung, wie sie in Europa in den meisten Ländern üblich ist, würde auch einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Gibt es denn Fantasien, mehr zu tun, um das Klima zu schützen?Wir haben gerade ein White Paper zum Thema nachhaltige Treibstoffe veröffentlicht, weil dies aus unserer Sicht der richtige Weg für die Logistik ist. Wenn die Industrie es schafft, diese Kraftstoffart nachhaltig zu produzieren und massenmarkttauglich zu machen, dann kann auch Fliegen CO2- neutral werden. Die Elektrifizierung aller Transportmöglichkeiten ist erst in ferner Zukunft möglich, daher muss man weiterdenken und über weitere Alternativen nachdenken. Noch einmal zurück zur Zustellung: Amazon ist Ihr größter Kunde und gleichzeitig Ihr größter Konkurrent – was bedeutet das?Amazon ist ein wichtiger Kunde für uns. Wir sind seit vielen Jahren und auch heute ein wichtiger Partner für Amazon. Wie jeder andere Kunde hat Amazon das Recht, Dinge selbst auszuprobieren. Merken Sie denn schon ein Abschmelzen des Geschäfts, weil Amazon selbst zustellt?Der E-Commerce-Markt wächst weiterhin signifikant und wir auch. Die Top-10-Kunden und die Top 100 wachsen relativ gleichmäßig. Die großen Kunden wachsen in ähnlichem Tempo, die mittelgroßen Kunden zuletzt am schnellsten. Wie groß ist das Klumpenrisiko?Auf globaler Ebene gibt es keinen Kunden, der für einen Anteil des Gesamtumsatzes von deutlich über 2 % steht. Sie haben vor einigen Wochen Ihre Strategie 2025 vorgestellt. Wie ist die Investorenreaktion?Sehr positiv, das zeigt auch der Aktienkurs. Die Investoren sehen das wie wir: In unseren fünf Divisionen haben wir starke Marktpositionen mit jeweils sehr gutem Wachstumspotenzial. Und wir sind Marktführer. Sie nehmen uns ab, dass wir Margenpotenzial haben und dass die Digitalisierung uns hilft, produktiver zu werden. Und genau das entspricht unserer Strategie: Wir forcieren operative Exzellenz und Digitalisierung. Unsere Investoren brauchen keine großen M&A-Transaktionen, um uns als attraktives Investment zu sehen. Und die wollen auch tatsächlich quantifizierte mehrjährige Prognosen?Absolut. Unsere Investoren schätzen die Planbarkeit, die sich durch unsere konkrete mehrjährige Guidance ergibt. Als wir im April 2014 unsere Strategie 2020 und damit eine sehr konkrete Prognose für das Jahr 2020 gegeben haben, war das ambitioniert. Unser Umfeld hat sich verändert, die Zeiten sind unsicherer und volatiler. Deswegen haben wir im Rahmen unserer Strategie 2025 eine Drei-Jahres-Prognose kommuniziert, die wir jährlich fortschreiben werden. Die Ziele sind auch nicht mehr so ambitioniert: 300 Mill. Euro mehr Ergebnis auf drei Jahre.Unsere Prognose geht weniger von Rückenwind der Weltwirtschaft und vielmehr von internen Verbesserungen aus. Das haben auch unsere Investoren verstanden. Aktuell sind wir ein wenig optimistischer im Hinblick auf das konjunkturelle Klima. Drehen Sie an der Guidance?Nein. Wir fühlen uns sehr wohl mit unserem Ausblick für 2022. Sie sprechen von Wachstumspotenzial. Gibt es tatsächlich Wachstum im Briefgeschäft?Nein, das Briefvolumen wird weiter schrumpfen. Aber das andauernd dynamische Wachstum im Paketgeschäft gleicht diesen Rückgang mehr als aus. Wir arbeiten nach wie vor daran, diese Transformation in unserem Geschäft zu managen. Stößt das Konglomerat aus Post und Logistik bei Investoren noch auf Kritik?Unsere Resilienz in der aktuellen Volatilität zeigt deutlich, wie sehr uns die breite Aufstellung mit mehr und weniger konjunkturabhängigen Geschäften hilft. Investoren fragen vielmehr: Was sind die großen Themen, mit denen Appel sich nun beschäftigt? Und meine Antwort: Jetzt kümmere ich mich um Digitalisierung. Warum?Die Digitalisierung bietet für unseren Konzern enorme Chancen. Wir bündeln unsere Expertise nun in globalen Center of Excellence, wo wir mit Data Analytics, Blockchain und Internet der Dinge neue Lösungen entwickeln und diese den Unternehmensbereichen zur Verfügung stellen. Das heißt, wir entwickeln nicht fünfmal, sondern einmal. Das erleichtert den Wissens- und Datenaustausch ungemein, und Sie erzielen unglaubliche Skaleneffekte. Kooperieren denn die Divisionen stärker untereinander?Ja, es gibt mittlerweile deutlich mehr Zusammenarbeit, zum Beispiel zwischen Spedition und Express. Express hat Zugang zu Flughäfen, den die Spedition nicht hat. Und es gibt natürlich mehrere Beispiele für die Zusammenarbeit unserer Divisionen entlang der E-Commerce-Wertschöpfungskette. Somit stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Konzerns mit seinen unterschiedlichen Unternehmensbereichen erst recht nicht mehr. Sind Daten auch Handelsware?Ja, das könnte in Zukunft so sein. Unsere Zustelladressen zum Beispiel sind besser als alles andere, was Sie am Markt bekommen können. Wenn Sie auf die 5th Avenue gehen und ein Hotel suchen, dann gibt es dieses Hotel womöglich nicht auf der 5th Avenue, weil der Eingang in der Seitenstraße liegt. Wir wissen das. Unsere Geodaten sind signifikant besser als andere. Das überprüfen wir Tag für Tag. Und das hat eine hohe Relevanz, egal ob für Adressüberprüfung oder Adressqualifizierung. Monetarisieren Sie das bereits?Wir sind noch nicht so weit, daraus ein kommerzielles Produkt zu machen. Wir konzentrieren uns darauf, den Data Lake zu füllen. Und dann wird es Mitarbeiter geben, die verschiedene Datensätze verknüpfen und darin etwas für sie Nützliches erkennen. Zur Digitalisierung: Der Konzern hat jetzt etwa 550 000 Beschäftigte, sind es in einigen Jahren nur noch 50 000?Nein. Nach unserer Prognose wird bis 2030 zwar ein Drittel aller Jobprofile, die wir heute haben, wegfallen. Dafür werden aber viele neue hinzukommen. Insgesamt werden wir 2030 weit mehr Beschäftigte haben als heute. Unsere Mitarbeiterzahlen sind auch in den vergangenen Jahren schon kontinuierlich gestiegen. Die Digitalisierung wird die Arbeit erleichtern, zum Beispiel in unserem Betrieb. Sie wird uns als Unternehmen und unsere Mitarbeiter produktiver machen. Über Ihr Unternehmen hinaus: Wird nicht zwischenzeitlich die Beschäftigung zurückgehen?Das wird immer wieder vermutet. Wenn sich etwas ändert, dann wird es aus Sicht der Menschen stets erst mal schlechter – und dann erst besser. Aber: In den vergangenen zehn Jahren ist das nicht passiert – obwohl die Digitalisierung schon lange voranschreitet, hat das nicht dazu geführt, dass es Massenarbeitslosigkeit gibt. Und in den westeuropäischen Ländern läuft die Demografie sowieso gegen uns. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Beschäftigten produktiver machen. Das Interview führten Detlef Fechtner und Walther Becker.