IM INTERVIEW: WOLFGANG NICKL

"Wir wollen das Thema hinter uns lassen"

Finanzchef sieht Bayer in laufenden Roundup-Verfahren auf der sicheren Seite

"Wir wollen das Thema hinter uns lassen"

Herr Nickl, der gefundene Vergleich zu den Glyphosat-Klagen ist hoch komplex. Können Sie ihn grob skizzieren?Der Glyphosat-Vergleich setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Auf der einen Seite geht es um die “currents”, also bereits eingereichte Klagen, die vorliegen oder bei denen sich Anspruchsteller schon Rechtsbeistand geholt haben. Auf der anderen Seite haben wir einen Weg gefunden, die “futures” – also mögliche künftige Klagen – außerhalb des Gerichtssaals beizulegen, über einen sogenannten Class-Action-Mechanismus. Was passiert mit potenziellen Klägern, die sich nicht auf das Verfahren mit dem wissenschaftlichen Gremium einlassen wollen? Drohen da nicht doch neue Klagen?Wir sind der Meinung, dass wir hier eine faire Regelung gefunden haben, die verschiedene Anreize bietet. Wir haben mit den Klägeranwälten vereinbart, dass wir alle zusammen versuchen werden, möglichst viele potenzielle Kläger in das Verfahren zu überführen. Haben Sie eine Schätzung für den Worst Case?Wir gehen davon aus, den Glyphosat-Komplex mit den bis zu 10,9 Mrd. Dollar komplett abzudecken. Gerade was die laufenden Verfahren betrifft, sehen wir uns auf der sicheren Seite. In der Gesamtsumme sind auch 1,25 Mrd. Dollar für das Class-Action-Verfahren enthalten, um zukünftige Klagen einer Lösung zuzuführen. Warum sind die drei in erster Instanz entschiedenen Fälle von dem Vergleich ausgeschlossen? Ergeben sich daraus nicht weitere Risiken?Es ist sehr wichtig, diese Fälle zu verteidigen und so schnell wie möglich eine höchstrichterliche Entscheidung des Supreme Court zu bekommen. Das Ziel ist, rechtskräftig feststellen zu lassen, dass die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche durch Bundesrecht ausgeschlossen sind. Das wäre eine zusätzliche Absicherung für uns. Birgt das nicht auch das Risiko, dass das Berufungsverfahren nicht zu Ihren Gunsten ausgeht?Das Risiko wäre dann auf die drei Fälle beschränkt. Wir hoffen, dass sich der Supreme Court mindestens eines dieser Fälle annimmt. Dann sind wir zuversichtlich, dass wir die Richter mit unseren Argumenten überzeugen können. Im gleichen Aufwasch haben Sie die anhängigen Dicamba-Verfahren und die PCB-Verfahren zu verunreinigten Gewässern mit Vergleichen beendet. Warum?Es war uns wichtig, jetzt alle Rechtskomplexe abzuarbeiten. Wir wollten Klarheit schaffen für das Geschäft. Denn wir wollen uns wieder auf Innovationen konzentrieren und nicht auf den Gerichtssaal. Hatten Sie aufgrund der Glyphosat-Klagen ein derart schlechtes Standing bei US-Gerichten, dass Sie Rückwirkungen auf die anderen Verfahren fürchten mussten?Dicamba ist ein wesentlich kleinerer Fallkomplex. Das ist weder von der Größe noch inhaltlich mit Glyphosat vergleichbar. Bei Dicamba zählen wir deutlich weniger Kläger. Außerdem geht es um behauptete Sachschäden und nicht um Personenschäden. Aber wir kennen die US-Klagewirtschaft. Von daher setzen wir an dieser Stelle auf Sicherheit. Alle Vergleiche können in Summe bis zu 12,1 Mrd. Dollar kosten. Wie finanzieren Sie das?Wichtig ist, dass die 12,1 Mrd. Dollar nicht auf einen Schlag zur Auszahlung kommen. Bis zu 5 Mrd. Dollar werden in diesem Jahr und bis zu 5 Mrd. Dollar im nächsten Jahr anfallen. Der Rest 2022 und später. Das ist für uns durchaus finanzierbar aus unseren Cash-flows und dem Erlös aus dem Verkauf des Geschäfts mit Tiermedizin. 12,1 Mrd. Dollar ist ein schwindelerregend hoher Betrag. Warum ist die Summe aus Ihrer Warte dennoch “wirtschaftlich vernünftig”?Bei der Beurteilung muss man natürlich immer die Frage nach den Alternativen stellen. Wir haben alle Alternativen angeschaut und bewertet und sind in Vorstand und Aufsichtsrat zu der einhelligen Meinung gekommen, dass die Vergleiche finanziell die beste Lösung sind. Das Geld fehlt an anderer Stelle. Wie gleichen Sie das aus?Es ist keine Frage, dass wir das Geld aus den Verkäufen lieber anders verwendet hätten. Umgekehrt erwirtschaften wir hohe Cash-flows in unserem operativen Geschäft. Wir haben gesagt, dass wir zwischen 2019 und 2022 über 30 Mrd. Euro in Forschung und in Sachanlagen investieren werden. Zudem haben wir Mittel für ergänzende Akquisitionen reserviert. Ich denke nicht, dass der Vergleich die Innovationskraft des Unternehmens einschränkt. Sie rechnen in diesem und im kommenden Jahr mit Auszahlungen von jeweils bis zu 5 Mrd. Dollar. Wann bilden Sie die entsprechenden Rückstellungen?Die Rückstellung für die gesamte Summe wird sofort für das zweite Quartal gebildet. Das wird 2020 zu einem signifikanten Verlust unter dem Strich führen. Dennoch beteuern Sie, an der Dividendenpolitik festzuhalten. Warum?Wir werden sehen, was wir 2020 ausweisen. Wir haben auch den Verkauf von Animal Health, da müssen wir abwarten, wie hoch der Buchgewinn ausfällt. Beides sind aber Sondereffekte. Das hat keinen Einfluss auf unser bereinigtes Ergebnis je Aktie. Unsere Dividendenpolitik orientiert sich an dieser Kennzahl. Wir schütten in der Regel 30 bis 40 % des Core EPS aus. Wir entscheiden aber nicht heute nicht über die Dividende für 2020. Es hält uns aus heutiger Sicht nichts davon ab, für 2020 eine Dividende auszuschütten. Dennoch wird der Cash-flow fehlen, um den von Ihnen priorisierten Schuldenabbau durchzuführen. Wäre es nicht wichtiger die Schulden abbauen?Wir müssen beides machen. Auf dem Kapitalmarkttag Ende 2018 haben wir den Free Cash-flow für 2019 bis 2022 auf ca. 23 Mrd. Euro taxiert und gesagt, dass dieser ausreicht, um die Entschuldung vorzunehmen, Dividenden zu bezahlen und einige ergänzende Investitionen zu tätigen. Darin waren die Erlöse aus den Verkäufen von Currenta, Animal Health, Coppertone und Dr. Scholl’s nicht berücksichtigt. Aber natürlich hatten wir auch keinen größeren Vergleich eingerechnet. Von daher gibt es keine wesentlichen Veränderungen an diesem Plan. Wir werden das sehr genau durchrechnen. Hinzu kommt die Corona-Situation, die wir nun auch berücksichtigen müssen. Details dazu werden wir auf dem Kapitalmarkttag am Ende dieses Jahres vorstellen. Wir stehen aber zu unserem Versprechen, die Entschuldung zügig voranzutreiben. Die Planung für dieses Jahr dürfte nun erst einmal über den Haufen geworfen sein. Wo soll die Nettoverschuldung Ende des Jahres liegen, vor Augen, dass die Verschuldung per 31. März bei 35,4 Mrd. Euro lag?Unser Ausblick – wir hatten für Ende 2020 eine Nettoverschuldung von 27 Mrd. Euro vorhergesagt – hatte den Vergleich nicht berücksichtigt. Ich möchte zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Vorhersage machen, zumal wir auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie berücksichtigen müssen. Das machen wir nach Möglichkeit mit dem Zwischenbericht im August. Wie problematisch schätzen Sie es ein, dass Bayer aufgrund der umstrittenen Monsanto-Übernahme keinerlei Vorratsbeschlüsse für den Notfall mehr hat, Stichwort: Kapitalerhöhung. Bereitet Ihnen das Sorgen?Überhaupt nicht. Wir haben keine größeren Akquisitionen vor, wir sind solide finanziert. Wir werden auch relativ zügig an den Anleihenmarkt gehen, vor allem zur Refinanzierung. Wir haben im Juni eine Fälligkeit von 1 Mrd. Euro zurückgezahlt. 2021 haben wir Fälligkeiten von über 8 Mrd. Euro. Der Bondmarkt ist offen, von daher gibt es überhaupt keinen Grund für eine Kapitalerhöhung. Das mag heute stimmen. Doch mit Blick auf die Coronakrise sind Aussagen zu offenen Kapitalmärkten doch nicht belastbar.Im Moment sieht es gut aus, deshalb wollen wir zügig agieren. Das haben wir angekündigt und sind recht zuversichtlich. Als Sie zu Bayer kamen, war das Kind schon in den Brunnen gefallen. War Ihnen die Tragweite der Probleme bei Dienstantritt bewusst?Ich habe natürlich gewusst, dass es hier einige Projekte gibt. Als ich am 27. April 2018 angefangen habe, lag das Johnson-Urteil noch nicht vor. Das war weder für Bayer noch für mich abzusehen. Ich kann aber sagen, dass ich es keinen Tag bereut habe, zu Bayer gekommen zu sein. Wie ist Ihre Gefühlslage heute? Geht es nach dem “heißen Frühjahr” jetzt erst einmal in den Urlaub?Wir sind alle erleichtert. Wir haben eine Lösung gefunden, die uns hilft, das Thema hinter uns zu lassen und nach vorne zu blicken. Ich werde mir sicherlich demnächst einmal eine kleine Auszeit gönnen. Das wird wahrscheinlich noch ein paar Wochen dauern. Aber ja, im August werde ich mit meiner Familie für eine Woche in den Urlaub gehen. Das Interview führte Annette Becker.