Von Alpha bis Omikron
Was war 2021 eigentlich los zwischen Alpha und Omikron – also der britischen Sars-CoV-2-Variante, die uns zum Jahresbeginn weitaus mehr Stunden im trauten Heim beschert hat als erwartet, und der südafrikanischen Variante, die uns dasselbe mit Blick auf das kommende Jahr verheißt? Jährlich grüßt die nächste Mutante, möchte man in Anlehnung an einen US-Filmklassiker mit Bill Murray fast sagen. Und doch ist einiges anders als noch vor zwölf Monaten. Wir haben uns verändert, vielleicht mehr als im ersten Jahr der Corona-Pandemie. Vieles, was als Notlösung zunächst noch gut funktionierte, erscheint uns als Dauerlösung mittlerweile untauglich. Die Impfkampagne, auf der Anfang des Jahres noch große Hoffnungen lagen, gilt mittlerweile für die allermeisten zwar als wichtiger Teil der Lösung. Erlösung erhoffen sich davon aber wohl nur noch die wenigsten.
Der Euphorieschwund gilt auch für die technischen Lösungen, die uns eine Zusammenkunft ohne Zusammensein ermöglichen und diese eben doch nie ersetzen können. Menschen wollen mit anderen Menschen von Angesicht zu Angesicht sprechen und nicht nur mit den Gesichtern in zahlreichen kleinen Kästchen eines Zoom-Calls oder eines Teams-Meetings. Festzustellen war dies im kurzen Sommer 2021 zwischen Alpha und Delta, als die Inzidenz sank, die Temperaturen stiegen, Impfungen in großer Zahl vorgenommen wurden und persönliche Treffen auch in Gruppen wenigstens temporär wieder möglich waren. Die meisten von uns haben wohl selten in derart viele glückliche Gesichter geblickt wie in den Wochen der Unbeschwertheit im Sommer 2021. Dann zogen die Inzidenzen wieder an, die Krankenhäuser füllten sich zusehends und die einstigen Not-Kommunikationslösungen kehrten auf unsere Bildschirme zurück.
Sinnlose Flucht ins Metaverse
Doch viele echte Herausforderungen lassen sich in der virtuellen Umgebung weiterhin nicht meistern. Da kann Facebook-Gründer und Meta-CEO Mark Zuckerberg seine virtuellen Welten noch so schön zeichnen und gigantisch wachsen lassen. Menschen, die im Ahrtal im vergangenen Sommer ihr Zuhause, ihre Firma oder Angehörige verloren haben, bringt die Flucht aus der Realität ins Metaverse ebenso wenig weiter wie die Hilfskräfte der Bundeswehr in Afghanistan eine Flucht via Microsofts Flight Simulator gebracht hätte. Die virtuelle Welt zählt eben nur so lange, wie die echte Welt intakt bleibt. Sobald letztere in Trümmern liegt, ist alles Virtuelle nichts mehr wert. Insofern sollte sich jeder genau überlegen, wie viel Euro, Dollar oder Bitcoin künftig in die Verschönerung des eigenen virtuellen Zuhauses fließen soll. Es könnte an anderer Stelle fehlen.
Die Coronakrise hat uns gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen diszipliniert sein kann und harte Einschränkungen akzeptiert, wenn dies dem Wohl und der Gesundheit der Gemeinschaft dient. Allerdings gilt dies nur so lange, bis eine noch größere Bedrohung die Wahrnehmung verändert. Als es darum ging, den Nachbarn zu helfen, die in der Flutkatastrophe im Ahrtal gerade alles verloren hatten, erschien den meisten Menschen die Corona-Pandemie für den Moment nachrangig. Es wurde geholfen und dabei wie selbstverständlich auch die eigene Gesundheit riskiert.
Die Lektion für den Klimaschutz sollte klar sein: Menschen, die unmittelbare Sorgen und Nöte sehen, werden mittelbare Gefahren wie den Klimawandel meist als nachrangig einstufen. Insofern ist es nur logisch, dass die Grünen hierzulande versuchen, in der Regierung Wohlstandssicherung und Klimaschutz unter einen Hut zu bringen. Alles andere hielte maximal bis zum nächsten Wahltag. Der faule Kompromiss, den mancher Klima-Aktivist im Koalitionsvertrag vermutet, ist wahrscheinlich zu einem guten Teil auch dieser realpolitischen Erkenntnis geschuldet.
Für die Wirtschaft bedeutet die realpolitische Orientierung der Regierungs-Grünen indes in keinem Fall, dass das Umbautempo gedrosselt werden kann. Der Klimaschutz steht hierzulande bei den Verbrauchern weiter hoch auf der Agenda. Auch hat die Flutkatastrophe unseren Blick auf die Folgen des Klimawandels noch einmal nachgeschärft. Die Auswirkungen sind eben mitnichten nur in fernen Ländern zu beobachten, sondern längst auch in Kontinentaleuropa immer häufiger anzutreffen.
Manche Branchen wie die Automobilindustrie haben sich daher 2021 endgültig einem ökologischen Wandel verschrieben. Alle hiesigen Autobauer haben ihre Elektrifizierungsziele im abgelaufenen Turnus noch einmal deutlich angehoben. Von der Bauindustrie über die Chemiebranche bis hin zu Stahl- und Baustoffherstellern zielen praktisch alle Unternehmen auf eine schnelle Verbesserung ihrer Klimabilanz.
Die Konsumenten entscheiden indes immer noch oft aus Bequemlichkeitsgesichtspunkten. Wer weiß, wo das E-Auto geladen werden kann (vorzugsweise in der heimischen Garage), wird eher vom Verbrenner zum Stromer wechseln als jemand ohne vergleichbare Option. Auch die Sorgen des Einzelhandels sind berechtigt, dass viele der Kunden, die in der Pandemie stärker auf den Onlinehandel gesetzt haben, nicht mehr in die Innenstädte zurückkehren könnten – oder zumindest nicht für eine Shopping-Tour. Wieso aus dem Haus gehen und mehrere Läden nach dem passenden Geschenk abklappern, wenn das gesuchte Produkt nur einen Klick und eine Paketdienstfahrt entfernt ist? Auch Kinobetreiber haben es schwer gegen die immer größeren Fernseher und das schier endlose Angebot der Streaming-Dienste. Restaurants haben mittlerweile entweder einen Lieferdienst als Partner, liefern selbst oder haben das zweite Jahr der Pandemie nicht überlebt. Für Theater und Museen könnte es ebenfalls eng werden. 2020 und 2021 wurde uns vor Augen geführt, dass das, was uns als Zivilisation stark macht, auch verletzlich gemacht hat – der internationale Austausch in Kultur, Wissenschaft und Handel, Freundschaften und grundsätzliches Vertrauen in unsere Mitmenschen.
Ökonomie der Stubenhocker
Viele Begegnungen und Kooperationen müssen in der Pandemie immer wieder pausieren, um eine Ausbreitung des Virus zumindest zu bremsen. Das hat zu einem wirtschaftlichen Transformationsprozess geführt, der in diesem Tempo wohl mindestens eine Generation nicht zu beobachten war. Entstanden ist eine Ökonomie der Stubenhocker. Menschen wurde es nie leichter gemacht, sich abzukapseln und ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren. Homeoffice, Home Delivery und Home Entertainment bilden die perfekte Basis für Einsiedlertum ohne spürbare materielle Einschränkungen.
Neben allen potenziell negativen Effekten eines Lebens in größerer Isolation auf die Psyche vieler Menschen hat dies auch Folgen für die Zusammensetzung der ökonomischen Landschaft. Die über Jahrzehnte durch viele Mittelständler dominierte deutsche Wirtschaft wird nun durch dominante globale Technologie-Plattformen in ihrer Existenz bedroht. Im Einzelhandel absorbiert Amazon immer mehr Geschäft. Die Vernetzung der deutschen Industrie hat AWS, Google und Microsoft die Auftragsbücher gefüllt. Im Zahlungsverkehr kam es 2021 zu großen Zukäufen jüngerer Mitspieler wie Paypal und Square, während die hiesigen Banken das Ringen um das lukrativer werdende Geschäftsfeld von der Seitenlinie beobachten haben.
Der Musik hinterherzulaufen scheint zum Jahreswechsel auch die Europäische Zentralbank. In einem Jahr dürfte klar sein, ob ihre Einschätzung, die erhöhte Inflationsrate sei nur von vorübergehender Natur, mehr als reines Wunschdenken war. Die US-Notenbank Fed ist jedenfalls deutlich besorgter und die Bank of England hat vor dem Jahreswechsel bereits überraschend eine erste Zinsanhebung vorgenommen.
Viele Volkswirte erwarten zwar im neuen Jahr einen geringeren Inflationsdruck. Aber es wäre beileibe nicht die erste Krise, die von Experten in der jüngeren Vergangenheit zu kurz prognostiziert wurde. So war es schließlich schon mit Blick auf die Coronakrise selbst oder auf die Produktionsengpässe in der Halbleiterindustrie. 2021 war fordernd. Der Blick voraus verspricht auch jenseits von Omikron ein nicht minder anspruchsvolles Jahr.
Von Sebastian Schmid, Frankfurt