Der Finanzplatz Düsseldorf im Wandel
1952, sieben Jahre nach Kriegsende, war der Wiederaufbau unseres Landes in vollem Gange. Die Not der Menschen wurde zunehmend gelindert. Das stetig steigende Einkommen der Beschäftigten reichte für den Lebensunterhalt und die notwendigen Dinge des Alltags aus. Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IFD) ermittelte, dass eine vierköpfige Familie 320 DM monatlich für ihren Lebensunterhalt benötigte. Das entsprach dem durchschnittlichen Monatseinkommen eines Industriearbeiters in Höhe von 325 DM. Auch die Zahl der Arbeitslosen nahm im Laufe des Jahres 1952 immer mehr ab. So war im Ruhrgebiet mit einer Arbeitslosenquote von nur knapp 2,5% praktisch Vollbeschäftigung erreicht.
In jenem Jahr, heute vor siebzig Jahren, wurde auch die Börsen-Zeitung gegründet. Es war eine Zeit, in der noch nicht von einem „Finanzplatz Deutschland“ gesprochen werden konnte. Die Nachkriegsordnung erlaubte regionale Finanzplätze, zu denen auch Düsseldorf gehörte. Bedingt durch das rheinische Industrierevier und das Ruhrgebiet, vor allem durch Kohle und Stahl, war er damals der bundesweit größte, zumal die Rheinisch-Westfälische Börse zu Düsseldorf das Wertpapiergeschäft der Essener Börse bereits 1934 infolge der von Reichswirtschaftsminister Kurt Schmitt angeordneten Schließung übernommen hatte.
Begünstigt wurde Düsseldorfs Relevanz unter anderem dadurch, dass 1952 ein erster Schritt zur Reintegration der nach dem Krieg zerschlagenen Berliner Großbanken unternommen wurde. Hierbei handelte es sich um den Bankverein Westdeutschland (Commerzbank), die Rheinisch-Westfälische Bank (Deutsche Bank) und die Rhein-Ruhr Bank (Dresdner Bank), alle mit Sitz in Düsseldorf, dem Schreibtisch des Ruhrgebietes.
Während die Kreditwirtschaft durch eine starke Nachfrage privater, institutioneller und unternehmerischer Kunden nach Finanzierungen aller Art geprägt und der Wettbewerb noch nicht so scharf wie heute konturiert war, war es für die Presse eine herausfordernde Zeit mit einer deutlich zunehmenden Konkurrenz. Sie führte zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen den Zeitungen aus der Lizenzphase und der Presse der Altverleger, also zwischen jenen Blättern, die (zumeist neu gegründet) über die nach dem Krieg notwendige Erscheinungsgenehmigung (Lizenz) der Militärverwaltung verfügten und jenen Verlegern, die ihre Zeitungshäuser wieder aufzubauen versuchten. Auch wenn die Alliierten im Zuge der schrittweisen Normalisierung der Lebensverhältnisse am 21. September 1949 für Westdeutschland eine Generallizenz erteilten und jeder, der über die notwendigen Ressourcen verfügte, eine Zeitung gründen durfte, mussten die Altverleger häufig wieder aufgeben, da sich die Lizenzpresse bereits eine treue Leserschaft hatte aufbauen können.
In jener Zeit hatte die schon seit 1947 bestehende Herausgebergemeinschaft Wertpapier-Mitteilungen, die sich aus der Interessengemeinschaft Frankfurter Kreditinstitute und den Verleger-Familien Lehmann und Keppler zusammensetzte, beschlossen, das bis dahin auf die Wertpapierverwaltung und -abwicklung der Banken ausgerichtete Verlagsprogramm um eine Tageszeitung mit Informationen zum Wertpapiergeschäft zu ergänzen. Es war eine gleichermaßen kluge wie mutige Entscheidung, denn die Herausgeber erkannten frühzeitig, dass der Wiederaufbau der noch jungen Bundesrepublik und ihre sich abzeichnende schrittweise europäische Integration eine stark wachsende Finanzwirtschaft – Kreditinstitute und Kapitalmärkte – nach sich ziehen und auch die Bedeutung Deutschlands als Finanzplatz akzentuieren könnten. Dementsprechend heißt es im Editorial der ersten Ausgabe der Börsen-Zeitung, es sei das Ziel, das „Börsengeschäft zu beleben und zu fördern“.
Zeitlich passte es gut. Die Düsseldorfer Börse hatte ihre Geschäftstätigkeit wieder aufgenommen, nachdem die Militärregierung am 15. April 1946 die Wiederaufnahme des Börsenverkehrs – im Casino der (heutigen) Commerzbank – erlaubte. Im Oktober 1947 wurden erstmals wieder Wertpapiere gehandelt. Zuvor wurden die Rechtmäßigkeit des Wertpapierbesitzes geprüft sowie Affidavits (Lieferbarkeitsbescheinigungen) ausgestellt. Knapp zwei Jahre später, im Mai 1949, nahm die Düsseldorfer Börse den amtlichen Handel wieder auf. Sie entwickelte sich schnell zur umsatzstärksten aller deutschen Börsen, eine Stellung, die sie bis 1973 zu behaupten vermochte.
Parallel zum Wachstum der Börse wuchsen die Einlagen und Kredite in den Banken und Sparkassen. Das starke industrielle Rückgrat, gepaart mit einer attraktiven Dienstleistungswirtschaft, führte dazu, dass der Finanzplatz – ohne das Interbankengeschäft – der größte in Deutschland wurde. Der Vorsprung gegenüber Frankfurt nimmt zu, sofern nur auf die Einlagen- und Kreditvolumina inländischer Kunden abgestellt wird. Damit einher ging ein vergleichsweise hoher Anteil der von der deutschen Kreditwirtschaft insgesamt erzielten Wertschöpfung: Er lag mit ca. 20% in etwa bei dem Beitrag der nordrhein-westfälischen Wirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik Deutschland.
Mit Ausnahme Frankfurts zeigt der Finanzplatz Düsseldorf aber wie vermutlich kein anderer sonst in Deutschland den strukturellen Wandel in der Kreditwirtschaft. So bestand die Vereinigung privater Banken 1953 aus 36 Instituten. Der heutige Blick in das Mitgliederverzeichnis belegt, dass es nur noch zwei Häuser gibt, die unverändert dem zwischenzeitlich als Bankenverband auftretenden Zusammenschluss angehören. Hierbei handelt es sich um die 1921 durch die christlichen Gewerkschaften in Berlin gegründete National-Bank sowie die drei Jahre jüngere IKB Deutsche Industriebank. Alle anderen Institute schieden aus dem Markt aus oder wurden Teile von Bankengruppen aus dem In- und Ausland, zuletzt HSBC Trinkaus & Burkhardt sowie das Bankhaus Lampe.
Auf die Frage, warum die Börsen-Zeitung als Partnerin und die National-Bank als Teilnehmerin des Finanzplatzes Düsseldorf imstande waren, eine über Jahrzehnte solide und von Profitabilität und Rentabilität getragene Wirtschaft unter Beweis zu stellen, gibt es – je nach Befragtem – vermutlich eine Reihe unterschiedlicher Antworten. Sie dürften unter der Überschrift „Kontinuität im Wandel“ zu bündeln sein. So hat es die Börsen-Zeitung stets vermocht, konsequent den Kern ihrer Tätigkeit im Blick zu halten. „Dem Alten das Neue abringen“ schien – von außen betrachtet – das Credo zu sein.
Der Trend in den Medien, Print und Online zu trennen und sich auf die jeweilige Stärke zu konzentrieren, wurde durch den anspruchsvollen Qualitätsjournalismus früh erkannt. Journalistische oder publizistische Irrungen wie in manch anderen Verlagshäusern hat es nie gegeben. Bei verlegerischen, vom Zeitgeist getragenen Beliebigkeiten wie Clubs, Reisen, arrangierten Treffen oder irgendwelchen Ruhmeshallen wurde zu Recht der Kopf geschüttelt. Bei aller Notwendigkeit einer guten – auch lauten, besser pointierten – Schlagzeile waren die solide Recherche und der verlässliche Inhalt eines Beitrages stets in Stein gemeißelt. Dabei sind „Fakten, Fakten, Fakten und an die Leser denken“, wie es andernorts hieß, die Grundlage, aber die Börsen-Zeitung war und ist mehr. So ließ sich das Postulat „Lesen mit Gewinn“, das über viele Jahre das Titelblatt zierte, sowohl im ideellen als auch im bilanziellen Sinne verstehen. Es überrascht deshalb nicht, dass das Phänomen einer in den Augen der Allgemeinheit sinkenden medialen Glaubwürdigkeit bei den Leserinnen und Lesern der „zeitungsmachenden Börsianern“ nicht anzutreffen ist.
Auch die National-Bank ist über Jahrzehnte erfolgreich und konsequent ihren Weg gegangen. Von manchem belächelt hat sie gezeigt, wie in einem durch einen starken Strukturwandel geprägten Land wie Nordrhein-Westfalen ein von Disziplin, Solidität und Stabilität getragenes Wachstum möglich ist. Das Geschäftsmodell ist einfach und überzeugend: exzellente Beratung und persönlicher Service. Profitabilität und Rentabilität haben seit der Wiederaufnahme der Geschäfte nach dem Zweiten Weltkrieg stets die Zahlung einer Dividende erlaubt.
Die Einhaltung rechtlicher Vorgaben war selbstverständlich. Staatshilfe, Cum-ex oder Anomalien anderer Institute wie die sogenannten Panama Papers kennt man in Essen nur vom Hörensagen. Der Gutsverwalter, nicht der Gutsherr taugt als Anspruch. Er ist zeitlos. Eine Konzentration auf den vermeintlichen Shareholder Value gab es nie, das Angebot der Teilhabe zu jeder Zeit. Grundlage ist ein von Solidarität getragenes unternehmerisches Selbstverständnis, wie es mit Blick auf die Geschichte der Bank – als von den christlichen Gewerkschaften gegründet – und auf die Region, als durch den besonderen Zusammenhalt im Bergbau geprägt worden ist. Aus allem folgt eine gesellschaftliche Reputation, wie sie nur wenige Institute ihr Eigen nennen können.
Hanns Joachim Friedrichs, Doyen eines vorbildlichen Journalismus und als solcher hochreputabel, fasste 1995 seine Lehren bei der BBC in einem Interview so zusammen: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“ Das ist von der journalistischen Annäherung und vom thematischen Umgang zutreffend, unterschlägt aber in einer zunehmend komplexer werdenden Welt einen wichtigen Aspekt: die Notwendigkeit einer erstklassigen Ausbildung und einer vielschichtigen Erfahrung, derer, die schreiben; Erfahrung, verstanden im Sinne eines bewussten, zeitlich längeren Ereignisses, dem durch die Realität verschiedene Sachverhalte präsentiert werden.
So werden journalistische Analyse und Wertung ebenso möglich wie Kontrastierungen oder Einbettungen in zeit- beziehungsweise unternehmensgeschichtliche Zusammenhänge. Verständnisfähigkeit und Verständniswilligkeit in der Aufnahme von Tatsachen durch die Verfasserin oder den Verfasser sowie Akkuratesse in der Artikulation von Gedanken beziehungsweise der Prägnanz ihrer Führung sind dabei unverzichtbare Charakteristika. Die Redakteurinnen und Redakteure der Börsen-Zeitung haben sie. Es ist wie mit guten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Banken und Sparkassen. Nur sie vermögen, die für Ungeübte zum Teil schwierigen Finanzdienstleistungsangebote umfassend zu erklären, um Kundinnen und Kunden auf vollständiger Tatsachenbasis eine solide Einschätzung zu ermöglichen, die ihrer individuellen Risikoneigung entspricht. Offenbar gibt es zwischen einer guten Zeitung und einer guten Bank mehr Parallelen, als manch einer denkt.