GASTBEITRAG

Abschied vom starren Ratingansatz

Börsen-Zeitung, 18.3.2015 Investoren und Emittenten fordern eine europäische Stimme auf den Kapitalmärkten. Was aber genau muss diese leisten können? Gibt es zu den Bewertungen der US-Agenturen überhaupt Alternativen? Fest steht: Eine europäische...

Abschied vom starren Ratingansatz

Investoren und Emittenten fordern eine europäische Stimme auf den Kapitalmärkten. Was aber genau muss diese leisten können? Gibt es zu den Bewertungen der US-Agenturen überhaupt Alternativen? Fest steht: Eine europäische Ratingagentur kann sich nicht darüber definieren, einfach nur höhere Ratings für europäische Emittenten zu verteilen. Stattdessen muss sie alternative Sichtweisen und alternative methodische Ansätze schaffen, die die Realitäten auf den europäischen Kapitalmärkten besser abbilden als die Urteile der angelsächsischen Ratingagenturen.In den vergangenen Jahren haben sich die europäischen Finanzmärkte verändert. Am sichtbarsten ist dieser Wandel im Bankensektor: Die neuen Regeln zur Sanierung und Abwicklung von Banken zum Beispiel führen dazu, dass anstelle staatlicher Unterstützung (Bail-out) künftig Anleihegläubiger bei Banken-Schieflagen herangezogen werden (Bail-in). Dies hat massive Auswirkungen auf das Risikoprofil von Bankanleihen – und sollte daher bereits heute im Rating vollständig reflektiert werden. Langsame ReaktionDie angelsächsischen Ratingagenturen reagieren auf die neuen Regeln jedoch nur sehr langsam und zögerlich – vor allem aus Rücksicht auf die global gültigen Ratingkriterien. Eine alternative Ratingagentur muss jedoch ihre Bewertungsmethodiken konsequent auf Grundlage dieser neuen Finanzmarkt-Realitäten aufbauen.Als Reaktion auf die Finanzkrise wurden die Bewertungsmethodiken zahlreicher Ratingagenturen deutlich detaillierter und zugleich starrer. Ziel war es, die Nachvollziehbarkeit der Ratings zu erhöhen. Diese an sich richtige Intention wurde jedoch in dem Maße überzogen, als die Analysten nun kaum noch Spielraum haben, eigene Meinungen zu formulieren und sie in die Analyse einzubringen.Die Folge: Der Ratingprozess wird mechanistisch. Er beschränkt sich überwiegend auf das reine Abarbeiten methodischer Vorgaben. Die Besonderheiten des einzelnen Emittenten finden in der Analyse hingegen zu wenig Platz. Der Emittent wird in ein starres Bewertungskorsett gezwängt – auch wenn es sich als unpassend erweist.Eine weitere Folge allzu starrer und mechanistischer Ratingansätze ist ein industrialisierter und somit der Logik der Massenproduktion unterworfener Ratingprozess. Nicht selten werden Teile der Analyse vollständig an Dienstleister in Niedriglohnländern ausgelagert. Das bringt Effizienzvorteile, geht jedoch zulasten der analytischen Tiefe. Statt individueller Analyse erhalten Emittenten standardisierte Bonitätsurteile.Selbstverständlich muss auch eine alternative Ratingagentur höchster Transparenz und Nachvollziehbarkeit verpflichtet sein, dennoch sollten sich Analysten zu jedem Emittenten eine individuelle Meinung bilden – und sich in ihrem Urteil nicht hinter einer starren Methodik “verstecken”. Die fundierte Meinung des Analysten ist der Kern eines Ratings.Ein Beispiel für einen mechanistischen Ansatz ist der sogenannte “Sovereign Cap” – also die Begrenzung eines Bank- oder Unternehmensratings durch das Rating des Staates, in dem die Bank/das Unternehmen ihren/seinen Sitz hat. Zugegeben: Es gibt enge Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Staaten und den dort beheimateten Banken und Unternehmen. Nichtsdestotrotz gibt es zahlreiche europäische Banken und Unternehmen, die nur einen Bruchteil ihrer Erträge im Heimatland generieren und stattdessen in weiten Teilen Europas und darüber hinaus aktiv sind. Es gibt keinen Grund, eine Bank oder ein Unternehmen mit einem breit diversifizierten Geschäftsmodell an das Rating des Heimatlandes zu ketten.Auch das Ausmaß, in dem Banken die Anleihen ihrer Heimatländer halten und somit von einer Staatspleite betroffen wären, variiert immens. Eine gehaltvolle Analyse muss sich daher stets mit den jeweiligen Risiken des Staatsanleihen-Portfolios einer Bank auseinandersetzen. Ein pauschaler “Sovereign Cap” wird der Wirklichkeit hingegen nicht gerecht – weder bei Banken noch bei Ratings von Covered Bonds, strukturierten Finanzierungen und Unternehmensanleihen.Einen großen Einfluss auf das Rating hat die Auswahl von Vergleichsdaten. Die Performance europäischer Kreditverbriefungen beispielsweise war in der Vergangenheit deutlich positiver als die US-amerikanischer Transaktionen. Die Verwendung amerikanischer Benchmarks zur Bewertung europäischer Transaktionen stößt daher auf Unverständnis sowohl bei Emittenten als auch bei Investoren. Eine alternative Ratingagentur sollte daher konsequent auf europäische Benchmarks setzen. RückwärtsgerichtetEin großer Kritikpunkt an den bisherigen Ratings ist ihr rückwärtsgerichteter Blickwinkel, der vor allem der hohen Relevanz vergangenheitsbasierter Kennzahlen geschuldet ist. Ein Weg, den zukunftsgerichteten Charakter der Ratings zu erhöhen, ist die Verwendung von Methoden aus der Aktienanalyse. Dazu zählen vor allem umfangreiche Prognosen von Finanzkennzahlen.Darüber hinaus wurden in der Vergangenheit Ratings häufig erst angepasst, lange nachdem die relevanten Informationen im Markt bekannt waren. Eine Ratingänderung hat für Investoren dann jedoch kaum noch einen Informationswert und wenig Nutzen. Eine alternative Ratingagentur muss den Anspruch haben, deutlich schneller zu reagieren.—-Torsten Hinrichs, CEO Scope Ratings