Allianzen zwischen der neuen und alten Welt
Heutzutage ist gefühlt alles disruptiv: Branchen, Unternehmen, Ideen. Was sagt Google dazu? 292 000 deutsche Einträge. Bedenkt man, dass dieses Adjektiv erst vor wenigen Jahren zum modischen Buzzword avancierte, ist das beachtlich. 1997 nutzte Clayton Christenson in seinem Buch “The Innovator’s Dilemma” erstmals “disruptive”, um eine Strategie kleiner Unternehmen gegen ihre etablierte Konkurrenz zu beschreiben. Es dauerte nicht lange und der Begriff wurde inflationär. Dabei ist Disruption kein neues Phänomen.Rückblickend mit diesem Buzzword im Hinterkopf wären auch Mitte des 19. Jahrhunderts die Fotografen der ersten Stunde disruptive, agile und transformierende Start-ups. Das, was die Fotografen von damals waren, sind die Robo-Advisors von heute.Vermutlich 1826 wurde das weltweit erste Foto des Franzosen Joseph Nicépore Nièpces angefertigt. Mit einer Camera Obscura, einer Lochkamera, gelang es ihm, Bilder auf mit Chemikalien versetzten Zinnplatten festzuhalten. Ein neues Medium wurde geboren und weiterentwickelt, das künftig in Konkurrenz zur klassischen Malerei stehen sollte. Für naturgetreue Abbildungen von Gegenständen, Landschaften und Menschen war kein menschliches Talent mehr notwendig, sondern Technik. Ausgerechnet ein Maler, Louis Jacques Mandé Daguerre, entwickelte das Verfahren der Fotografie weiter und begründete 1839 die Geburt der modernen Fotografie. Sein nach ihm als Daguerrotypie benanntes Verfahren wurde zunächst für Architekturdarstellungen genutzt. Doch es dauerte nicht lange, bis die Fotografie im wahrsten Sinne auf die Menschheit losgelassen wurde: Mit der Portraitfotografie.Damit drang ein vollkommen neuer Berufszweig, eine noch unbekannte und neue Branche in die Domäne der etablierten, klassischen Malerei vor – und in eine lukrative noch dazu. Bildnisse von Familienangehörigen gab es schon immer. Miniaturportraits von Personen waren weit verbreitet und hatten eine jahrhundertelange Tradition. Das war ein altes Handwerk, dem sich Familienbetriebe seit Generationen verschrieben hatten. Nun, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist plötzlich etwas Neues, ganz Anderes da, das günstiger und obendrein auch noch einfacher zu erlernen ist. Genauso, wie jetzt in der Welt der Vermögensberater, hatte eine disruptive Innovation die Marktbühne betreten. Etwas, was zunächst schwer einschätzbar war.Das Verhältnis zwischen Portraitmalerei und Fotografie ist durchaus mit der aktuellen Beziehung zwischen Robo-Advice und dem traditionellen Privatkundengeschäft der Banken oder der klassischen Vermögensverwalter vergleichbar. Beide ermöglichten einer breiteren Masse den Zugang zu einer bisher relativ exklusiven Dienstleistung. Die Fotografie machte Portraits massentauglich. Wie der Kunsthistoriker Aaron Scharf in seinem Buch “Art and Photography” schreibt, wurden allein in Paris im Jahr 1849 bereits 100 000 Portraits nach dem daguerrotypischen Fotografieverfahren aufgenommen. 1847 wurden schon eine halbe Million Aufnahmen verkauft – und Scharf geht davon aus, dass der Löwenanteil Portraits waren. Selbst im Jahr 1840, als die Daguerrotypie noch in den ganz frühen Kinderschuhen steckte, war sie bereits deutlich kostengünstiger als ein gemaltes Portrait. Was sich früher nur ausgesprochen gut betuchte Menschen leisten konnten, wurde nach und nach zu einem Massenprodukt.Einen ähnlichen demokratisierenden Effekt haben auch Robo-Advisor. Waren bisher hochwertige vermögensverwaltende Anlagekonzepte lediglich wohlhabenden Menschen vorbehalten, ist dies nun anders. Bei Whitebox zum Beispiel können Anleger bereits ab 5 000 Euro investieren. Auch sind die Verwaltungsgebühren mit teilweise deutlich unter einem Prozent signifikant niedriger als in der klassischen Welt. Ausgabeaufschläge von 5 % plus einer Managementgebühr von 3 %, wie sie Publikumsfonds noch vor wenigen Jahren veranschlagt haben, sind heute kaum durchsetzbar. Lange MalereisitzungenEs gibt auch noch eine weitere Parallele zwischen Fotografie und Robo-Advice: der Komfort und der immens verringerte Zeitaufwand. Sicherlich, die Belichtungszeiten der ersten Fotografien waren sehr lang. Deswegen lächeln die fotografierten Personen im 19. Jahrhundert nie. Doch fotografiert zu werden, war dennoch angenehmer als Portraitsitzungen beim Maler. Zum Vergleich: es wird berichtet, dass die Maler Reynolds und Lawrence bis zu 50 Sitzungen mit ihrem Modell für ein einziges Portrait brauchten. Die Herzogin von Richmond soll ihre Sitzungen für Lawrence nicht nur als unangenehm, sondern auch als echte Qual empfunden haben. Das lange Stillstehen hat ihr nach eigenen Aussagen Schmerzen bereitet. Lawrence reagierte zudem recht ungehalten, wenn sie sich nur ein wenig bewegte. Teuer und auch kein Vergnügen – klingt nach Abschreckpotenzial.Gespräche in einer Bank oder bei einem Vermögensverwalter dürften nicht so unangenehm wie eine Portraitsitzung sein, sind aber zeitaufwendig. Bei einem Robo-Advisor fällt diese erste Hürde weg. Kunden können den Anlageprozess zu jeder Tageszeit und ohne Termin bequem von zu Hause aus bestreiten. Die gesamte Anmeldung kann online erledigt werden. Bestehen darüber hinaus dennoch individuelle Fragen, können diese bei Whitebox über unterschiedliche Kanäle von fachkundigen Mitarbeitern mit langjähriger Bankerfahrung im Privatkundengeschäft direkt geklärt werden. Gelegentliche SkepsisÜbrigens: Genauso wie Fintechs oder Robo-Advisor heute gelegentlich mit Skepsis beäugt werden, gab es auch damals bei der Fotografie Bedenken. Selbst Königin Victoria von England zeigte sich besorgt darüber, ob die Fotografie das “Aus” für die Miniaturportraitmalerei bedeuten könnte. Tatsächlich war das nicht der Fall. Die Kunstjournale der damaligen Zeit beschrieben es so: “Durch die Fotografie wurden dritt- und viertklassige Miniaturmaler vom Markt gefegt”. Nach dem Motto “Konkurrenz belebt das Geschäft”, denn auch so kann man Disruption verstehen. Ähnliches lässt sich auf die Finanzbranche übertragen: Berater, die keinen wirklichen Mehrwert bieten, werden es künftig immer schwerer haben. Andere, die die Zeichen der Zeit erkennen, und das tun, müssen sich keine Sorgen machen. Das gilt besonders für Beratungsthemen, die gar nicht oder nur schwer digitalisierbar sind wie Vermögenstrukturierung, Steuerfragen oder Nachfolgethemen.Auch betrachtete nicht jeder Maler die Fotografie als Bedrohung. Talbot sah in ihr ein Hilfsmittel. Ingres setzte sie sogar ganz gezielt für seine Portraitarbeiten ein. Ob seiner Kundschaft zu Liebe oder aus Eigennutz – Ingres arbeitete mit einem Fotografen zusammen. Dieser soll der einzige gewesen sein, von dessen Arbeit Ingres überzeugt war. Dank des Fotografens seines Vertrauens fertigte Ingres jedenfalls verschiedene Portraits an, ohne sein Haus verlassen zu müssen. Und noch mehr: Er nutzte die Fotografie für seine Zwecke und dokumentierte mit ihr seine eigene Arbeit.Heute wie damals gibt es Allianzen zwischen der neuen und alten Welt: Banken rufen eigene Robo-Advisor ins Leben oder kooperieren mit ihnen. Zudem hat die Fotografie die Malerei nicht ersetzt, sondern bereichert. Neue Kunstströmungen wie der Impressionismus wurden erst durch die Fotografie möglich. Die Impressionisten entwickelten eine neue Maltechnik, indem sie inspiriert durch die Fotografie andere, bisher nie dagewesene Lichtakzente setzten. Andere Maler wie zum Beispiel Adolf von Menzel suchten neue Nischen: Von Menzel spezialisierte sich auf Historienmalerei. Die Fotografie konnte schließlich nur die Gegenwart abbilden. Von Menzel hingegen konnte mit seiner Farbpalette die Vergangenheit wieder lebendig werden lassen.Genauso wie die Fotografie die Malerei befruchtet hat, ergänzen Robo-Advisor die Finanzwelt. Mittel- und langfristig wird sich auf beiden Seiten lediglich die Spreu vom Weizen trennen. Von einem “Entweder – oder” kann nicht die Rede sein.—-Salome Preiswerk, Gründerin des digitalen Vermögensverwalters Whitebox