„Covid Zero“ raubt dem Finanzplatz Schanghai seinen Glanz
Von Norbert Hellmann, Schanghai
Über den Lockdown-Kummer in Schanghai und seine Folgeschäden für Chinas Wirtschaftsvertrauen ist schon viel geschrieben worden. Wie aber sieht es mit dem Finanzplatz Schanghai und den Erfahrungen im Lockdown der dort Beschäftigten aus? Jeder weiß, dass Chinas Finanzmarktgeschicke über Schanghai laufen und die Financial Community dort auch zu Hause ist. Für die lokale Wirtschaft und Beschäftigungssituation der 25-Millionen-Metropole mit Provinzrang ist die Finanzszene zwar bedeutsam, aber dennoch weniger prägend wie etwa in New York, London und auch Hongkong. Schanghai lebt mit anderen Worten nicht von seinem Finanzsektor, aber die Finanzmarktkultur des Landes lebt von Schanghai und seiner Aura.
Die Überzeugung vom Sonderstatus der Finanzkapitale Chinas hat sicherlich dazu beigetragen, dass die Stadtverantwortlichen noch bis Mitte März glaubten, eine von der Parteiführung abweichende „Covid-Zero-Strategie“ fahren zu können und trotz wachsender Omikron-Ansteckungen einem harten Lockdown zu entgehen. Wie man weiß, ist es anders gekommen. Mitte März wurden die ersten Wohnanlagen im Stadtteil Pudong abgeriegelt. Am 27. März, einem Sonntag, kam dann die Nachricht, dass die gesamte Stadthälfte Pudong mit der Finanzmeile Lujiazui für zunächst vier Tage vollkommen abgesperrt werde.
Um einen chinaweiten Kollaps des Börsen- und Finanzmarkthandels am folgenden Montag zu verhindern, befahlen die staatlichen Finanzmarktinstitutionen von Börsenbetreibern, Clearinghäusern, Regulierungsinstanzen bis zu Banken, Brokerhäusern und Fondsgesellschaften, dass der Großteil der Belegschaft sich unverzüglich an die Arbeitsstelle zu begeben hätten und sich dort für vier Tage einnisten sollten. In China klappen solche Aktionen hervorragend, und so gab es zu Beginn des offiziellen Lockdown in Pudong am 28. März auch keinerlei Reibungsverluste auf technischer und operationaler Ebene des Finanzplatzgeschehens. Das Problem ist freilich, dass aus der viertägigen Internierung am Arbeitsplatz eine zehnwöchige geworden ist.
Bis auf wenige Ausnahmen waren die für den Finanzplatzbetrieb als erforderlich angesehenen Beschäftigten seit Ende März ununterbrochen in einer „Arbeitsplatz-Bubble“ gefangen. Sie haben die zum 1. Juni offiziell beendete, aber in mancher Hinsicht dennoch diskret weitergeführte Lockdown-Zeit also nicht im Zuhause und bei Familie, sondern im Kollegenkreis und einem Shuttlebetrieb zwischen Büro und nahe gelegenen Quarantäneeinkünften verbracht. Viele mussten tatsächlich die ganze Zeit über in einer zu Wohn- und Schlafsälen leicht umgebauten Büroumgebung hausen. Das sind Bedingungen, die chinesische Wanderarbeiter mit Baustellen- und anderen Niedriglohnjobs zur Genüge kennen. Für Schanghais gut ausgebildete White-Collar-Elite entsprechen sie trotz Lohnaufschlägen für den Sondereinsatz nicht ihrer Vorstellung von „work hard, play hard and make a ton of money“.
Die Shanghai Stock Exchange hat nun verkündet, dass alle seit Ende März kasernierten Mitarbeiter ab 6. Juni nun wieder zu Freigängern werden. Sie durften am Freitag, dem als Drachenbootfest bekannten gesetzlichen Feiertag, nach Hause zu ihren Lieben. Von Montag ab dürfen sie wieder eine herkömmliche Work-Life-Balance von der Sorte, morgens in der überfüllten U-Bahn, tagsüber im Büro, nachts im eigenen Bett, pflegen. Andere Organisationen und Finanzinstitute haben Ähnliches verkündet.
Tritt damit ein geregelter Alltag ein und wird Lujiazui wieder eine Finanzmeile mit brodelndem Leben? Vorerst nicht. Die neuen Spielregeln erlauben zwar die Öffnung der Büros, nicht aber der begleitenden Versorgungsinfrastruktur rund um Kantinen, Coffeeshops, Restaurants und Kneipen. Das macht das Community-Leben und die Mittagspause nicht attraktiver. Andererseits hat derzeit sowieso niemand Zeit für Mittagspausen oder gar Feierabendbierchen. Nein, gerade diese Zeitfenster müssen anders genutzt werden, um als garantiert Nichtangesteckter auch am nächsten Tag wieder einsatzfähig zu sein.
Mit Aufhebung des Lockdowns greifen neue Regeln, die Zugang zu Verkehrsmitteln, Büros und Geschäften vom Vorweisen eines negativen PCR-Testergebnisses in der dafür vorgesehenen Smartphone-App abhängig machen. Es verliert nach 72 Stunden seine Gültigkeit. In der Praxis heißt das, alle 48 Stunden den Test aufzufrischen, um durchgehend handlungsfähig zu bleiben. In Schanghai stehen nun ein paar Tausend Testkabinen, in denen man einen Abstrich machen lässt, dessen Ergebnis nach zehn bis zwölf Stunden in die Corona-App eingeht. Man kann sich jedoch vorstellen, wie es zu Stoßzeiten, vor allem mittags und nach Feierabend, an den Covid-Buden zugeht und wie langsam die Zeit in der Warteschlange vergeht. Lujiazuis glänzende Hochhauskulisse zeigt sich vom Lockdown nicht verändert, aber für ihre Insassen hat der Job in Chinas Finanzmeile einiges an Glamour verloren.