Der Mittelstand war noch nie so umworben wie heute

Werte und ein besonderes Selbstverständnis verbinden die Unternehmen so eng mit mittelständischen Banken wie mit keiner anderen Institutsgruppe

Der Mittelstand war noch nie so umworben wie heute

Der Mittelstand ist das Rückgrat der ökonomischen Entwicklung in Deutschland. Rund 99 % aller Unternehmen sind kleine und mittlere Gesellschaften, die mit 60 % aller Arbeitsplätze mehr als die Hälfte der Wertschöpfung erwirtschaften. Ihre Leistungsstärke und Innovationskraft stehen weltweit für den hohen qualitativen Anspruch, dem sich die Unternehmen täglich stellen. Fast die Hälfte aller mittelständischen Weltmarktführer stammt aus Deutschland. Das Wort “Mittelstand” hat nahezu in alle wichtigen Weltsprachen Einzug gehalten. Versuche, es zu übersetzen, scheiterten. Mittelstand ist Mittelstand.Zum unternehmerischen Selbstverständnis des Mittelstandes gehört ein Wertekanon, der mittelständische Unternehmen in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung miteinander verbindet. Dieser Kanon ist kein Postulat, sondern Ausdruck tatsächlich gelebter unternehmerischer Werte und Verantwortung. Er ist ungeschrieben und mag in seiner konkreten unternehmens- oder familienspezifischen Ausgestaltung unterschiedlich akzentuiert sein. Im inhaltlichen Kern ist er durch ein hohes Maß an Kohärenz gekennzeichnet. Diese Kohärenz ist zweidimensional – unternehmerisch-betriebswirtschaftlich und ethisch-moralisch. Systemtheoretisch handelt es sich um zwei ineinandergreifende Regelkreise, die sich gegenseitig bedingen und überlappen. Beide sind durch einen breiten gesellschaftlichen Konsens und demzufolge von einer großen soziopolitischen Akzeptanz getragen.Zu dem unternehmerisch-betriebswirtschaftlichen Kern zählen selbstverständlich Profitabilität und Rentabilität. Das bedarf an sich keiner besonderen Erwähnung, soll aber der Vollständigkeit halber genannt werden, denn es gilt größenunabhängig für alle Unternehmen. Spezifisch mittelständisch sind Solidität und Stabilität, mit anderen Worten die Risikoneigung. Sie schließen die Nachhaltigkeit und Langfristigkeit der Unternehmensentwicklung (Kurzfristerfolge werden nicht angestrebt) ebenso ein wie die Überschaubarkeit des Geschäftsmodells (Unternehmensgröße, Komplexität). Ethisch-moralischer KernZum ethisch-moralischen Kern gehören unter anderem Vertrauen und Berechenbarkeit, Loyalität und Verlässlichkeit. Aber auch die gelebte Verantwortlichkeit der Unternehmensführung ist ein wichtiger Bestandteil. Sie wiederum schließt den realen Produkt- und Dienstleistungsnutzen, den Modus der Zielvorgaben und -vereinbarungen, kurz: das Führungs- und Vergütungsmodell, mit ein.Der Wertekanon mittelständischer Unternehmen wird durch die mittelständischen Banken geteilt. Auch ihr Wertesystem ist zweidimensional geprägt.Zwar mag es manchem Beobachter schwerfallen, bei Banken in Anbetracht der vergleichsweisen Komplexität des Geschäftsmodells oder der Größe ihrer Bilanzsumme von mittelständischen Unternehmen zu sprechen, jedoch gibt es sie trotzdem. Institute, die fernab der Kapitalmärkte handelsrechtlicher Rechnungslegung folgend ausschließlich kundengetragene Geschäfte, zumeist mit einem starken Regionalbezug, betreiben. Institute, die hinsichtlich der Gesamtheit ihrer Erträge eine tiefe realwirtschaftliche Verankerung als ihre DNA betrachten, denn sie wachsen gemeinsam mit ihren Kunden. Sie sprechen nicht über den Mittelstand, sondern sind es selbst. Das verschafft ihnen Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit. Hierzu zählen die Bankhäuser Max Flessa, Lampe und Schilling, die Südwestbank, Warburg und andere, um illustrativ nur einige Beispiele zu nennen. “Geerdete” HäuserDiese Häuser sind durch eine strategische Verlässlichkeit gekennzeichnet, die sich aus den Komponenten einer tiefen regionalen Verwurzelung, einer starken Kundenloyalität, einer personellen Kontinuität und einer unternehmerischen Solidität zusammensetzt. Dabei geht es nicht um Struktur-, sondern Wertekonservatismus. Bei ihnen stellen Gesellschaft und Politik nicht die Frage der Vereinbarkeit von Markt und Moral. Bei ihnen haben die Menschen nicht das Gefühl, einem bonusgetriebenen Renditestreben unter dem Motto “Eigennutzen vor Fremdnutzen” ausgesetzt zu sein. Im Gegenteil: Die überschaubaren Größenordnungen, in denen das Geschäft seit Jahrzehnten betrieben wird, schaffen Vertrauen, ebenso die unmittelbar in das Kundengeschäft eingebundene Führungsebene. Das erdet.In der Vergangenheit haben unterschiedliche Apologeten der Kreditwirtschaft stets das Mantra wiederholt, mittelständisch geprägte Institute hätten in einem sich deutlich verschärfenden Wettbewerbsumfeld nur geringe Überlebenschancen. Die Folge war: Globalisierung und Internationalisierung. Deregulierung und Digitalisierung führten zu einer regionalen Entwurzelung manch großer Häuser. Der Ruf nach eigener Größe übertönte den tatsächlichen Bedarf von Firmen- und Privatkunden. Maßgebend schien der eigene Bedarf für Profit und Rendite. Die Entfremdung war eine Folge. Anonyme Call-, Service- und Kreditentscheidungszentren taten den Rest. Langjährige Kundenverbindungen brachen oder nahmen Schaden. Kunden danken esDie mittelständischen Institute haben sich hiervon nicht mitreißen lassen. Sie wollten und, das gehört dazu, konnten es auch nicht, denn Personal- und Kapitalressourcen waren und sind begrenzt. Sie sind sich und ihren Kunden treu geblieben. Und die Kunden haben es ihnen gedankt. Es ist keine Überraschung, dass sie insgesamt vergleichsweise gut durch die Finanzkrise und ihre Folgen gekommen sind und heute mit ansprechenden Ergebnissen von sich reden machen. Bemerkenswert ist, dass viele von ihnen das Reputationsrisiko aufsichtsrechtlich als wesentlich einordnen und dementsprechend aktiv in ihre Risikosteuerung mit einbeziehen. Auch die National-Bank gehört dazu. Alles scheint vergessen zu seinNun entdecken alle Institute den Mittelstand. Die eigene Geschichte, wie zum Beispiel das Aussteuern von Kundenverbindungen in Boomzeiten der Kapitalmärkte zur Freisetzung von Kapital für den Eigenhandel, kurz: die Irrungen und Wirrungen der vergangenen 15 Jahre, alles scheint vergessen. Noch nie war der Mittelstand so umworben. Die Berichte von Kunden sind bemerkenswert, auch die Argumente, mit denen manche Vertreter der Zunft ihre Dienstleistungen anbieten. Es fragt sich deshalb, ob die Institute tatsächlich dem Mittelstand oder sich selbst helfen wollen. Mitunter scheint es eher ein Selbsthilfeprozess zu sein, denn Regulatorik und Judikatur lassen heute eine Reihe von Geschäften unattraktiv oder unerlaubt erscheinen, die früher als scheinbar attraktiv und scheinbar erlaubt galten. Für den Mittelstand wirkt es bisweilen wie eine “aufgedrängte Bereicherung”. Kein PhantomschmerzDer Mittelstand hat das Verhalten der Banken in den letzten eineinhalb Jahrzehnten aber nicht vergessen. Er hat die subjektiv als Kreditklemme empfundene Phase noch vor Augen. Es ist für ihn kein Phantomschmerz. Das zeigen Kundengespräche stets aufs Neue. Dabei geht es nicht um den nachtragenden Unternehmer oder Larmoyanz. Folglich ist es mit der Eröffnung von ein paar Niederlassungen ebenso wenig getan wie mit der Bereitstellung von Krediten, zum Teil unter Einstand. Worum es geht, ist eine strategische, operative und persönliche Verlässlichkeit, ein über Jahrhunderte von ehrbaren Kaufleuten gelebter Wert. Alle existenzberechtigtDafür stehen mittelständische Banken ebenso wie der Mittelstand. Das bedeutet keineswegs eine Überlegenheit mittelständischer Banken und ihrer Geschäftsmodelle gegenüber Großbanken oder anderen Instituten. Alle Bankgruppen haben ihre nachgewiesene Existenzberechtigung und teilweise eine großartige Geschichte. Insofern ist es kein Ausschlussverhältnis. Unterschiedlich ausgeprägt sind jedoch unternehmerische und persönliche Werte sowie ein besonderes Selbstverständnis, die Mittelstand und mittelständische Banken so eng miteinander verbinden wie mit keiner anderen Institutsgruppe.—Von Thomas A. Lange, Vorstandsvorsitzender der National-Bank AG und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes deutscher Banken e.V.