GASTBEITRAG

Die Folgen der Niedrigzinspolitik werden noch immer unterschätzt

Börsen-Zeitung, 11.12.2015 Seit Beginn der europäischen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins immer weiter gesenkt. Seit gut einem Jahr erhebt sie Negativzinsen für Bankeinlagen. Die weitreichenden...

Die Folgen der Niedrigzinspolitik werden noch immer unterschätzt

Seit Beginn der europäischen Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins immer weiter gesenkt. Seit gut einem Jahr erhebt sie Negativzinsen für Bankeinlagen. Die weitreichenden Folgen dieser Niedrig- und Nullzinsphase für Wirtschaft und Gesellschaft werden bisher noch unterschätzt. Auch eine öffentliche Debatte findet nur rudimentär statt, obwohl mit dieser Politik gravierende Entwicklungen einhergehen, die Unternehmen sowie Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen betreffen. Die Auswirkungen werden nur langsam sichtbar, sind aber massiv. Erosion der Sparkultur, Einbrüche bei der Altersvorsorge, Vertrauensverlust in Lebensversicherungen, Altersarmut, längere Lebensarbeitszeiten, die Gefahr von Spekulationsblasen und unerwünschten Umverteilungseffekten – dies sind die drastischen Konsequenzen der aktuellen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Notenbank agiert politischSeit der Nachkriegszeit hatten die Bürgerinnen und Bürger die Gewissheit, dass durch ein kontinuierliches Sparen der persönliche Wohlstand wächst. Die Zinsentwicklung bewegte sich in einem verlässlichen Rahmen. Mit der jetzigen Geldpolitik der Europäischen Zentralbank vollzog sich jedoch ein Paradigmenwechsel. Die niedrigen und sogar negativen Leitzinsen werden hierbei oftmals mit der geringen Nachfrage nach Kapital und der niedrigen realen Wachstumsrate begründet.Sicherlich ist es richtig, dass eine Investitionsschwäche im Euroraum die aktuelle wirtschaftliche Lage prägt und sich einige europäische Volkswirtschaften noch nicht von den Nachwirkungen der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise erholt haben.Erstens trifft dies jedoch nicht auf alle Länder des Euroraums zu – die Geldpolitik gilt aber trotzdem für jedes Mitglied gleichermaßen. In Baden-Württemberg beispielsweise kann für das laufende Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von rund 2 % gerechnet werden. Von einer, wie vom amerikanischen Ökonomen Larry Summers beschriebenen, “säkularen Stagnation”, die eine expansive Geldpolitik gegebenenfalls rechtfertigen würde, kann man hier also nicht sprechen. Auch die hohen Innovationsleistungen der Wirtschaft in Baden-Württemberg sind der physische Beweis einer dynamischen Entwicklung.Zweitens lassen die niedrigen Zinsen die Bereitschaft vieler Euro-Länder, ihre Haushalte zu konsolidieren und notwendige Reformen anzupacken, erlahmen. Die EZB sollte das Risiko nicht ignorieren, dass sich die Politik an die sehr niedrigen Zinsen gewöhnt. Ein zu spätes Zurück zu einem höheren Zinsniveau kann vor diesem Hintergrund für viele Staaten dann wiederum ein erneuter Krisenauslöser sein.Grundsätzlich kann man konstatieren, dass die EZB viel politischer agiert, als die Bundesbank es jemals tat. Die schnelle Reaktion der EZB in der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise war richtig und notwendig. Jedoch wurde mit der anhaltenden Niedrigzinspolitik der Auss tieg aus dem Krisenmodus verpasst.Eine Reaktion der Bürgerinnen und Bürger auf die schlechte Rendite klassischer, risikoarmer Sparformen wäre ein höherer Aktienanteil am Vermögen. Dies ist jedoch vielen Menschen aufgrund ihrer finanziellen Verhältnisse gar nicht möglich. Gleichzeitig gewinnen Aktien durch die gegenwärtigen bürokratischen Hürden – Stichwort Beratungsprotokoll – nicht an Attraktivität. Hier müssten regulatorische Hemmnisse abgebaut werden und bessere Rahmenbedingungen für eine höhere Bereitschaft der Sparer sorgen, in diese Anlageform zu investieren. Staat gibt Vorteil nicht weiterAm meisten profitiert von den Niedrigstzinsen die öffentliche Hand. Schätzungen etwa des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel gehen von einer Zinsersparnis von rund 100 Mrd. Euro in den vergangenen sieben Jahren aus. So haben die öffentlichen Haushalte ersichtliche Vorteile von der aktuellen Niedrigzinsphase. Genutzt wurde diese Entwicklung nur bedingt, um einen Ausgleich für Sparer zu schaffen oder um die wirtschaftliche Dynamik mit gezielten Investitionen zu befördern.Auch in der individuellen Betrachtung macht sich entsprechend ein Defizit bei den Bürgerinnen und Bürgern bemerkbar. Bei einer Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) zum Sparverhalten wurde die Sparquote 2015 nur noch mit 9,6 % beziffert. Die andauernde Niedrigzinsphase reduziert den Anlageertrag des Finanzvermögens der privaten Haushalte merklich. Auch die Zahlen des Statistischen Bundesamts verdeutlichen diese Entwicklung. Demzufolge ist der Anteil der Zins- und Pachteinkommen am verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte seit 2007 um 2 Prozentpunkte auf 2,5 % gesunken. So ist es nicht verwunderlich, dass bei einer Umfrage des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands (DSGV) gut ein Drittel der Befragten die Politik der EZB als größte Gefahr für ihr Vermögen angibt – weit vor Griechenland und der Diskussion um den Euro.Gerade bei Personen mit geringen finanziellen Spielräumen erhöht das niedrige Zinsniveau das Risiko einer unzureichenden Altersvorsorge. Zweifellos haben viele Bundesbürger erkannt, dass für eine ausreichende finanzielle Absicherung die gesetzliche Rente um eine eigene private Vorsorge ergänzt werden muss. Hier besteht Spielraum für politisches Handeln. Anreize der Politik zur privaten Altersvorsorge, wie zum Beispiel durch das staatlich geförderte Riester-Sparen, stoßen in Deutschland bereits auf großes Interesse. Die weite Verbreitung von Riester-Sparprodukten zeigt, dass die staatlich geförderten Vorsorgeprodukte eine hohe Akzeptanz in Deutschland genießen. Jedoch kann auch beobachtet werden, dass in den vergangenen Jahren die Zahl neuer Vertragsabschlüsse abgenommen hat. Die bestehenden Instrumente zur Sparförderung sollten daher wieder an Attraktivität gewinnen und durch Nachbesserungen an die neuen geldpolitischen Rahmenbedingungen angepasst werden. Geschäftsmodell unter DruckAbgesehen davon sind auch die Sparkassen sowie die Volksbanken und Raiffeisenbanken als Hauptfinanzierer des Mittelstands von der Niedrigzinsphase betroffen – und zwar aufgrund ihres nachhaltigen und risikoarmen Geschäftsmodells. Anders als bei Großbanken, die auch mit Investmentgeschäften signifikant Geld verdienen, ist die Ertragslage der Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie der Sparkassen besonders zinssensibel. Im Zuge des insgesamt immer niedrigeren Zinsniveaus in den vergangenen Jahren wurde die Ertragslage erheblich belastet, und sie gerät weiter unter Druck.Damit werden gerade jene Banken in ihrer Handlungsfähigkeit weiter eingeengt, die im Rahmen der jüngsten Krisen die Stützen des Kreditsystems waren. Auch hier wird wiederum ein gänzlich falscher Anreiz gesetzt, da die Kombination aus niedrigen Zinsen und überbordender Regulatorik am stärksten die regional tätigen und realwirtschaftlich ausgerichteten Institute trifft. Statt die Geschäftsmodelle unserer kleinen und mittelgroßen, dezentral aufgestellten Banken und Sparkassen zu honorieren, um das Risiko von Dominoeffekten durch systemrelevante Institute zu minimieren, erschwert die aktuelle Geldpolitik die Arbeit unserer Institute.Letztlich genügt ein Blick in die jüngere japanische Geschichte, um die Gefahren einer langanhaltenden Niedrigzinsphase zu erkennen. Japan zeigt eine “verlorene Generation” ohne Wachstum mit einer drastischen Verschuldung der öffentlichen Haushalte und einer mangelnden Perspektive für eine neue Dynamik. Für die europäische Geldpolitik und die deutsche Wirtschaftspolitik sollten die Lehren aus der japanischen Niedrigzinspolitik eine Warnung sein und zu einem entschlossenen Handeln bewegen. Breite KoalitionZu den großen Herausforderungen der Niedrig- und Nullzinsphase sowie der Regulatorik kommt nun noch das Vorhaben der EU-Kommission hinzu, die Einlagensicherung in Europa erneut zu reformieren. Die Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken wehren sich massiv gegen diese Pläne. Wir bieten mit der Institutssicherung die größtmögliche Absicherung aller Einlagen und Spargelder, die es in Europa gibt. Diese dürfen wir uns nicht durch eine Vergemeinschaftung der Haftung aushöhlen lassen. In einer Phase, in der die Hälfte der 28 EU-Staaten die bisherigen Beschlüsse zur Harmonisierung der Einlagensicherung noch gar nicht umgesetzt hat, bereits weitere Schritte zu fordern, ist absurd. Wir sind dankbar, dass eine breite Koalition aus Politik – Bundestag und Bundesregierung, die deutschen Abgeordneten im Europaparlament und zahlreiche Landtagsabgeordnete -, aus Bundesbank und Sachverständigenrat dies ebenso sieht.—-Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands —-Peter Schneider, Präsident des Sparkassenverbands Baden-Württemberg