Die Hauptversammlung von morgen

Aufbruch ins Online-Zeitalter

Die Hauptversammlung von morgen

Dr. Andreas AustmannLL.M. (Harvard), Partner bei Hengeler MuellerDr. Carsten SchapmannPartner bei Hengeler MuellerDie Covid-19-Pandemie hat den Charakter deutscher Aktionärstreffen schlagartig verändert. Nachdem Hauptversammlungen mit hunderten oder gar tausenden Teilnehmern seit März 2020 nicht mehr möglich waren, konnten die anstehenden Beschlussfassungen nur online ohne physische Präsenz der Aktionäre durchgeführt werden. In einem koordinierten Kraftakt haben Ministerien und Gesetzgeber dazu noch im März die erforderlichen rechtlichen Grundlagen geschaffen. Nun blicken wir auf die erste Saison der virtuellen Hauptversammlung zurück. Das Echo ist geteilt: Die Emittenten bewerten es durchweg als positiv, dass vor der Online-Beschlussfassung lediglich ein ungestörter, von Überraschungen freier Lese-Marathon der Verwaltung stattfand, mit dem die Erläuterungen der Abschlussunterlagen und Berichte der Verwaltung vorgetragen und die zuvor eingereichten Fragen der Aktionäre beantwortet wurden. Nachfragen, spontane Gegenanträge und Verfahrensanträge waren ausgeschlossen. Anfechtungsklagen wurden praktisch nicht erhoben; eine Hand voll grundsätzlicher Klagen, mit denen die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen überprüft werden soll, werden ziemlich sicher ohne Erfolg bleiben. Aktionärsvereinigungen hingegen sehen in der virtuellen Hauptversammlung der vergangenen Saison nicht nur einen Verlust an Diskussionskultur, sondern auch eine starke Beschneidung der Aktionärsrechte und fordern umfangreiche Reformen. Einstweilen aber hat der Gesetzgeber den Rechtsrahmen für die virtuelle Hauptversammlung unverändert bis Ende 2021 verlängert. Eine als Dauerlösung tragfähige Reform steht noch aus und wird hoffentlich im Laufe des Jahres 2021 zu diskutieren und vom Gesetzgeber zu verabschieden sein.Wohin soll die Reise gehen? Sicher nicht zurück: Unter der Geltung unseres heutigen Aktienrechts war die Präsenz-Hauptversammlung seit den 60er Jahren zunächst 30 Jahre lang im Wesentlichen eine große Heerschau mehr oder weniger selbstzufriedener Verwaltungen. In den folgenden 30 Jahren entwickelte sie sich dann unter dem Einfluss aktivistischer Kleinaktionäre zu einer Formalveranstaltung, in der Vorstand und Aufsichtsrat überwiegend vorgefertigte Texte verlasen und es nur selten wagten, die juristisch abgesicherte Wagenburg zu verlassen. Diesem ermüdenden Format braucht man keine Träne nachzuweinen. Covid-19 hat die längst überfällige Reform sofort fällig gestellt.Was wird die Hauptversammlung der Zukunft nicht sein? Sie wird nicht mehr als IR-Veranstaltung der Emittenten, auch nicht mehr als Bühne für Aktionäre zur Verbreitung weltanschaulicher oder allgemein politischer, gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Standpunkte dienen. Sie wird sich nicht mehr als Zeitvertreib oder Treffpunkt für Aktionäre in persona eignen. Verköstigung und Give-aways werden entfallen. Die Hauptversammlung selbst wird nicht einmal mehr die Hauptquelle der Aktionärsinformation in Vorbereitung auf die Beschlussfassung sein.Stattdessen wird die Hauptversammlung zukünftig mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließlich online stattfinden und die Kosten und – in Pandemiezeiten – Gesundheitsgefahren großer Menschenansammlungen vermeiden. Sie wird sich auf das konzentrieren, was eine Hauptversammlung im Kern leisten soll, nämlich Willensbildung und rechtssichere Beschlussfassung. Dadurch wird sie auch für ausländische Investoren attraktiver werden. Der Trend zu größeren Hauptversammlungspräsenzen, den wir schon in der vergangenen Saison beobachten konnten, dürfte sich fortsetzen. Um sachgerechte Beschlüsse fassen zu können, müssen die Aktionäre informiert sein, und zwar im Vorfeld der Hauptversammlung. Daraus folgt, dass die bisher mündlichen Erläuterungen von Vorstand und Aufsichtsrat bereits vor der Hauptversammlung vorliegen müssen, damit die Aktionäre diese bei ihren Fragen berücksichtigen können. In der Hauptversammlung wird es allenfalls Updates der Berichte geben. Die Antworten der Verwaltung müssen ebenfalls vor der Hauptversammlung vorliegen, damit die Aktionäre während der Versammlung online nachfragen können. Ausufernden und missbräuchlichen Fragenkatalogen kann man schon mit den heutigen rechtlichen Mitteln entgegentreten. Gegebenenfalls kann der Gesetzgeber beim Auskunftsrecht und bei den Gründen für Auskunftsverweigerungen nachtarieren. Spontane Gegenanträge während der Hauptversammlung und Widersprüche müssen online möglich sein. Auch gewisse Verfahrensanträge sollten während der Hauptversammlung gestellt werden dürfen. Dazu gehören insbesondere Anträge auf Einzelentlastung, Absetzung von Tagesordnungspunkten und Vertagung der ganzen Hauptversammlung, während ein Antrag auf Abwahl des Versammlungsleiters endgültig nicht mehr in Betracht kommt. Selbstverständlich wird online abgestimmt. Am schwierigsten wird es sein, den Aktionären die Möglichkeit zur Bildung von Koalitionen zu verschaffen. Dazu bietet es sich an, das schon 2005 eingeführte, aber leblos gebliebene, von der Gesellschaft unabhängige elektronische Aktionärsforum des Bundesanzeigers wiederzubeleben und so auszugestalten, dass im Vorfeld und während der Hauptversammlung eine echte Interaktion der Aktionäre möglich ist. Technisch sind die hier unterbreiteten Vorschläge schon heute realisierbar. Ohne allzu tiefes Bedauern verabschieden wir uns von der Präsenz-Hauptversammlung und freuen uns auf die den Zeitläufen und der technischen Entwicklung angemessene echte Online-Hauptversammlung.