Die "schöne neue Zinswelt" ist nicht ohne Risiken
Ein Ende der Niedrigzinsphase war noch vor gar nicht allzu langer Zeit ein wahrscheinliches Szenario. Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte aufgehört, ihr Anleiheportfolio weiter aufzublähen, und signalisierte für 2019 eine erste Leitzinserhöhung. Sie wäre damit dem Beispiel der US-Notenbank gefolgt, die bereits im Dezember 2015 den Zinserhöhungskurs gestartet hatte und ihren Leitzins in den folgenden drei Jahren um mehr als zwei Prozentpunkte erhöhte. Spektakuläre KehrtwendeDann jedoch kam es zur spektakulären Kehrtwende dieser beiden wichtigen Notenbanken, wie auch der Geldpolitik in anderen Ländern. Sie reagierten damit auf das schwierigere weltwirtschaftliche Umfeld, das vor allem durch den sich immer weiter zuspitzenden Handelskonflikt zwischen den USA und China eingetrübt wurde. Auch die Unsicherheit über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und die dortigen politischen Turbulenzen dürften innerhalb der EZB die Bereitschaft zu einem expansiveren Vorgehen erhöht haben.Die Federal Reserve hat Ende Juli begonnen, den Leitzins zu reduzieren und die EZB hat in ihrer Sitzung am 12. September beschlossen, den Expansionsgrad der Geldpolitik zu erhöhen: Das Maßnahmenpaket umfasst vor allem die Senkung des Einlagenzinses um zehn Basispunkte noch tiefer in den negativen Bereich und die Wiederaufnahme der Anleihekäufe ab November. An den Finanzmärkten hat die Erwartung dieser Maßnahmen bereits im Vorfeld zu einem kräftigen Rückgang der Rendite zehnjähriger Bundesanleihen geführt. Aus dem Nullzinsniveau ist ein negatives Zinsumfeld geworden, das vermutlich noch Jahre Bestand haben wird. Die künftige EZB-Präsidentin hat schon angemerkt, dass sie bei den Zinsen “weiteren Spielraum nach unten” sehe.Die Gründe für niedrige Zinsen sind natürlich nicht allein bei den Notenbanken zu suchen. Denn diese sind kein Phänomen der jüngsten Zeit, sondern das Ergebnis langfristiger struktureller Veränderungen. Dahinter stehen Megatrends wie Globalisierung, Digitalisierung und die demografische Entwicklung. So drückt der gestiegene Wettbewerb in einer globalisierten Weltwirtschaft die Inflationsraten. Alternde Gesellschaften tragen zu einem weltweiten Sparüberschuss über die Investitionen bei, der Druck auf die Zinsen ausübt. Darüber hinaus fällt im digitalen Zeitalter vermutlich der Investitionsbedarf niedriger aus, wenn digitale Innovationen weniger Kapitaleinsatz erfordern als beispielsweise die Errichtung von Produktionsanlagen in der “alten Welt”. Vielfältige AuswirkungenDie Auswirkungen negativer Zinsen auf Wirtschaft und Gesellschaft sind vielfältig. Private wie auch institutionelle Anleger verfehlen mit festverzinslichen Wertpapieren ihre Sparziele, die Altersvorsorge ist gefährdet und falsche Anreize für Sparer und Schuldner werden gesetzt. Die Helaba Landesbank Hessen-Thüringen ist wie andere Kreditinstitute vom negativen Einlagenzins der EZB betroffen. Darüber hinaus sorgen die extrem niedrigen Kapitalmarktzinsen in Verbindung mit dem intensiven Wettbewerb für einen enormen Margendruck und belasten so die Ertragslage der Banken.Für uns als führender gewerblicher Immobilienfinanzierer Deutschlands sind die Auswirkungen der Negativzinsen auf Immobilien von besonderer Bedeutung. Zumindest kurzfristig sind diese nicht nur negativ. Denn grundsätzlich erhöhen sie die relative Attraktivität dieser Assetklasse. Der dadurch hohen Nachfrage am Investmentmarkt steht nur ein überschaubares Angebot gegenüber. Die Folge sind in den meisten Segmenten immer weiter steigende Immobilienpreise. Der Aufschwung an diesem Markt, der sich bereits im zehnten Jahr befindet, wird so auf unbestimmte Zeit verlängert.Kräftig steigende Zinsen, die manche Marktteilnehmer vor kurzer Zeit noch als großes Risiko für die Anlageklasse ansahen, sind nun auf Sicht der nächsten Jahre kein Thema mehr. Die Risikoprämien auf Immobilieninvestments – gemessen als Spread der Anfangsrenditen zur risikolosen Anlage in Bundesanleihen – werden auf absehbare Zeit historisch hoch bleiben und damit Immobilien für Investoren attraktiv.Immobilienkäufer profitieren von historisch niedrigen Finanzierungskosten. Dies gilt für den privaten Wohneigentumserwerb genauso wie für gewerbliche Transaktionen. In vielen Fällen konnten bislang die gesunkenen Finanzierungskosten die gestiegenen Kaufpreise kompensieren und den Immobilienerwerb so erschwinglich halten. Dies gilt allerdings nicht oder nur eingeschränkt in den großen Ballungszentren, wo der Preisanstieg eine Größenordnung erreicht, die nicht mehr durch die sinkende Bauzinsen kompensiert wird.Größter Profiteur sind die öffentlichen Haushalte, die für ihre Schulden am Kapitalmarkt keine Zinsen mehr bezahlen müssen. Dies eröffnet Handlungsspielräume, die für wichtige Aufgaben wie die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum für einkommensschwache Bevölkerungsschichten oder die Beseitigung von infrastrukturellen Defiziten verwendet werden könnten. Dem stehen allerdings die Kapazitätsengpässe in der seit Jahren boomenden Bauindustrie entgegen. Ein großes Konjunkturprogramm, zu dem sich immer mehr Politiker positionieren, ist daher für diese Zwecke kurzfristig kaum realisierbar.Wer meint, die “schöne neue Zinswelt” sei ohne Risiken, dürfte früher oder später eines Besseren belehrt werden. Extrem niedrige Zinsen sind derzeit der wesentliche Treiber am Investmentmarkt und sorgen dafür, dass die Immobilienpreise seit Jahren stärker als die Mieteinnahmen steigen. Immobilien werden damit immer teurer. Die Bundesbank weist schon seit Jahren auf Überbewertungen in vielen Segmenten des deutschen Immobilienmarktes hin. Nach der abgesagten Zinswende könnte dies zwar noch einige Jahre gut gehen. Erfahrungsgemäß werden aber überbewertete Assets zunehmend korrekturanfällig, und eine solche Korrektur wird früher oder später – wie stets in der Vergangenheit – kommen.Negative Zinsen für Hypotheken im Wohnbereich und in der gewerblichen Immobilienfinanzierung waren bis vor kurzem unvorstellbar. Künftig jedoch können diese für ein Kreditinstitut grundsätzlich sinnvoll sein, wenn nämlich auf Einlagen bei der Notenbank noch höhere negative Zinsen anfallen. Dabei muss es den Banken aber letztlich möglich bleiben, auskömmliche Geschäfte zu tätigen. Die Kosten der Kreditvergabe müssen gedeckt werden, ein ausreichender Risikopuffer für mögliche Kreditausfälle muss vorhanden sein und Banken sollten auch Erträge generieren können. Sicher ist, dass negative Zinsen eine große Herausforderung für die Branche sind und den Konsolidierungsdruck erhöhen. Fraglich ist dagegen, ob damit die von der EZB beabsichtigte Ankurbelung der Kreditvergabe gelingen kann. Christian Schmid, Vorstandsmitglied der Helaba Landesbank Hessen-Thüringen